Sonntag, 8. November 2009

„Ab nach Russland mit dem radioaktiven Müll“ /16.10.09

Von Michael Ludwig, Moskau
16. Oktober 2009 Es sei niemals Atommüll nach Russland gebracht worden, und dabei werde es auch bleiben - so reagierte Sergej Totschlin, der stellvertretende Gouverneur des Gebietes Tomsk in Sibirien, auf Berichte westlicher Medien über illegale Atommülltransporte nach Russland. In den Berichten war davon die Rede, dass beispielsweise Frankreich und Deutschland radioaktives Material - abgereichertes Uranhexafluorid - nach Russland bringen. Auch von der Urananreicherungsanlage im nordrhein-westfälischen Gronau, die zum Urenco-Konsortium gehört, wurden zwischen 1996 und 2008 von dem Material 27.300 Tonnen nach Russland gebracht. Dies bestätigte eine deutsche Sprecherin des Unternehmens, das zu drei gleichen Teilen im Besitz des britischen und niederländischen Staates und der Uranit GmbH ist . Diese gehört wiederum zu gleichen Teilen den großen deutschen Energiekonzernen Eon und RWE. Die Urenco betreibt außerdem Anlagen im britischen Capenhurst und dem niederländischen Almelo.

Von dem nach Sibirien gelieferten Material, werde nur ein kleiner Teil wieder angereichert und kehre als Brennstoff für Atommeiler in die Ursprungsländer zurück. Bis zu 90 Prozent des zumindest vorerst nicht mehr verwertbaren Restes verblieben in Russland, genauer: im Freien und in rostenden Stahlbehältern, etwa im „Sibirischen Chemischen Kombinat“ bei der geschlossenen Stadt Serwersk (Tomsk-7) nahe Tomsk, deren Existenz von der Sowjetunion erst 1989 zugegeben worden war. Ähnliche Lagerstätten bestehen bei spezialisierten Chemiewerken in Swerdlowsk (Swerdlowsk-44), Krasnojarsk (Krasnojarsk-45) und in Angarsk.

Nicht als Atommüll deklariert

Aber das, was nach Russland gebracht wird und in diesen Lagern bleibt, wird weder in den Ursprungsländern noch in Russland als Atommüll deklariert. Totschlin betrieb die verbale Konversion des möglicherweise gefährlichen Stoffs also nach der gleichen Methode, die offenbar auch in den Ursprungsländern üblich ist. Der Stoff, um den es gehe, enthalte siebenmal weniger Uran als Natururan, sagte Totschlin. Was von dem angelieferten Uranhexafluorid als nicht mehr verwertbar übrig bleibe, führte Totschlin weiter aus, werde absolut sicher gelagert. Wenn der unwahrscheinliche Fall eintreten sollte, dass die Fässer leck würden, kristallisiere sich der Stoff unter Einwirkung der Luftfeuchtigkeit.

In westlichen Berichten war davor gewarnt worden, dass unter dem Einfluss von Feuchtigkeit eine hochgiftige Säure entstehe. Doch leckende Fässer seien noch nie entdeckt worden, sagte Totschlin. Dem pflichtete eine Organisation bei, die sich „Ökologischer Kongress“ nennt. Dessen Präsident Sergej Baranowskij sagte, es seien weder seiner Organisation noch dem „Grünen Kreuz“ Zwischenfälle bei dem Transport oder der Lagerung des abgereicherten Urans gemeldet worden. Und der Pressesprecher der Atombehörde Rosatom, Sergej Nowikow, sagte, der Umgang mit besagtem Stoff entspreche den von der Internationalen Atomenergiebehörde vorgegebenen Regeln. Alles werde strengstens kontrolliert.

Urenco-Sprecherin weist Vorwürfe zurück

Auch die Sprecherin der Urenco Deutschland GmbH in Gronau, Antje Evers, wies die jüngsten Vorwürfe zurück. Sowohl Transport als auch Lagerung seien an Verträge mit der russischen Firma Tenex gekoppelt und völlig legal, sagte am Donnerstag die Sprecherin des Unternehmens Urenco in Gronau, Antje Evers. Zum Vorwurf, die Fässer mit dem radioaktiven Uranhexafluorid würden unter freiem Himmel gelagert und rosteten vor sich hin, sagte die Sprecherin, eigene Mitarbeiter hätten sich von der Lagerung in Russland ein Bild gemacht: Sie hätten keine rostenden Behälter gesehen.

Die Anti-Atom-Bewegung „Ausgestrahlt“, die Mittwoch von einer illegalen Lagerung gesprochen hatte, erneuerte am Donnerstag ihre Kritik und verwies auf Aufnahmen des Fernsehsenders ZDF, die rostende Fässer einer Lagerstätte im sibirischen Sewersk zeigten. „Urenco lügt, wenn sie sagt, Atommüllbehälter in Sibirien rosten nicht“, hieß es in einer Mitteilung. Urenco-Sprecherin Evers sagte hingegen: „Das ist eine nach deutschem Standard übliche Lagerung in dickwandigen Behältern unter freiem Himmel - wie in Gronau auch.“ Grundsätzlich sei die russische Firma dafür zuständig. Sie wisse nicht, woher die Aufnahmen stammen, es sind immer die gleichen Bilder.“

Auch ein Sprecher des Bundesumweltministeriums hatte am Mittwoch in Berlin gesagt, es sei auszuschließen, dass deutscher Atommüll in Russland lagere. Bei dem geschilderten Fall handele es sich nicht um Atommüll oder eine illegale Entsorgung, sondern um abgereichertes Uran, das auf der Grundlage von Verträgen exportiert worden sei. Entsprechende Transporte sind bereits in einer Bundestagsdrucksache aus dem Jahr 2007 dokumentiert. Jochen Stay, Sprecher von „ausgestrahlt“, sagte demgegenüber: „Die deutschen Stromkonzerne entsorgen ihren Atommüll seit Jahren illegal in Sibirien.“

Kritiker: „Eine riesige Atommüllkippe“

Die russische Sektion von Greenpeace schließt sich dieser Sichtweisean. Die Einfuhr des abgereicherten Uranhexafluorids zum Zweck der Wiederanreicherung sei im Grunde nichts anderes als der Versuch westlicher Firmen, ihren Atommüll loszuwerden und Kosten zu sparen. Der sogenannte Reststoff, ein „wieder nutzbares Altprodukt“, der nach Russland gebracht werde und in Sewersk und an anderen Orten lagere, falle unter die Kategorie radioaktiver Substanzen. Deren Einfuhr sei nach russischem Gesetz bis 2007 verboten gewesen. Im Grunde sei es jedoch möglich, auch jene 90 Prozent des angelieferten Materials zu nutzen, die in Russland verbleiben, und zwar für die Gewinnung von Brennstoff für den „Schnellen Brüter“.

Im Westen werde diese Technologie aber nicht genutzt, also heiße es: „Ab nach Russland mit dem radioaktiven Müll.“ Die russische Atombehörde „Rosatom“ wiederum deklariere das Westeuropa nach Russland gebrachte abgereicherte Uranhexafluorid als „wertvollen Rohstoff“, um Kollisionen mit dem Regelwerk zu vermeiden. Das ist nicht ganz falsch, weil in Russland das Vorhaben besteht, nach 2030 die Technologie des „Schnellen Brüters“ für die Gewinnung von Atomkraft zu nutzen. Bis dahin werde aus Russland, wo bereits neben den „Importen“ von rund 127.000 Tonnen Uranhexafluorid aus dem westlichen Ausland auch etwa 700.000 Tonnen lagern, die die heimische Atomenergiewirtschaft angehäuft hat, eine riesige Atommüllkippe, sagen die Atomkraftgegner.

Russland verfüge nicht die Technik, das giftige Material in chemisch stabileres und damit größere Sicherheit bietendes Uranoxid umzuwandeln, heißt es bei Greenpeace. Diese Technik müsse es im Westen kaufen. Wieso sich der Kreislauf für Russland dennoch offenbar rechnet, müsste aus den Verträgen für die Abnahme von Uranhexafluorid und die teilweise Wiederanreicherung zu ersehen sein. Aber die sind Geschäftsgeheimnis.
Quelle: FAZ.NET


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