Montag, 29. Dezember 2008

Ex-Uran-Bergleute der Wismut kaempfen für Unfallrente /29.12.08

Selbsthilfegruppe für Atomopfer
Ex-Uran-Bergleute der Wismut kämpfen für Unfallrenten. Teil 2 der taz-Serie über die Anti-Atom-Bewegung. VON FELIX WERDERMANN

BERLIN taz "Für mich persönlich habe ich aufgegeben." Michael Löffler klingt heiser. Das liegt daran, dass ihm eine der beiden Stimmlippen per Laser entfernt wurde. Löffler hat Krebs im Kehlkopf. Seit Jahren setzt er sich dafür ein, dass seine Krankheit als Berufsunfall beim Uranabbau anerkannt wird. Seinen Rechtsstreit hat er dieses Jahr zwar verloren, aber für seine ehemaligen Kollegen kämpft er weiter - als Vorsitzender der Initiative "Atomopfer e. V."

Es ist eine außergewöhnliche Anti-Atom-Initiative: In dem Verein haben sich ehemalige Bergleute der Wismut AG zusammengeschlossen, die zu DDR-Zeiten in Thüringen und Sachsen Uran abgebaut haben. 35 Mitglieder zählt der Verein heute; 70 weitere Menschen holen sich bei der Gruppe Rat, wenn es um die Anerkennung ihrer Krankheiten als Berufsunfall geht. "Rechtsberatung machen wir nicht, aber wir vermitteln Rechtsanwälte und Gutacher", erklärt Löffler. Außerdem macht die Initiative Öffentlichkeitsarbeit, beteiligt sich an Konferenzen und hat eine Plakatausstellung erarbeitet. Zusammen mit einem Rechtsanwalt hat der Verein einen Vorschlag für ein Wismut-Entschädigungs-Gesetz entworfen, das den Parteien im Bundestag vorgestellt werden soll.

Seit 1992 wird in Deutschland kein Uran mehr gefördert, seitdem werden die Altanlagen saniert. Für die Bergleute geht die Geschichte aber weiter: "Uran wirkt ja nicht gleich", erzählt Löffler, "das ist unser Problem." Krankheiten brächen oft erst 15 bis 40 Jahre später aus; Ursache seien radioaktiver Feinstaub oder das Gas Radon. "Viele Leute wissen gar nicht, dass dies der Grund für ihre Krankheit ist", sagt Löffler. Er hat von seiner Krankheit 1992 erfahren - 16 Jahre nachdem er bei der Wismut aufgehört hat. Bei der Berufsgenossenschaft hat er eine Unfallrente beantragt - ohne Erfolg.

"Der ist weit weg von der Anerkennung", sagt Matthias Zschockelt, zuständiger Abteilungsleiter. Die Entscheidung hänge ab von der Krankheit und dem Zeitraum der Beschäftigung im Uranabbau. Direkt nach dem Krieg sei dort die Strahlenbelastung weit höher gewesen als zu Löfflers Zeit in den 70er-Jahren. Daher gebe es durchaus Fälle, in denen positiv entschieden wurde: Über 3.000 der 10.000 Anträge waren erfolgreich.

Löffler gehört nicht dazu und hat deswegen viele Prozesse geführt. 8.000 Euro hat er ausgegeben, für Gutachten, Rechtsanwalt und Gericht. Genützt hat ihm das nichts: Im Frühjahr hat das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg seine Klage abgewiesen und keine Revision zugelassen. Sein Ziel möchte er aber weiter verfolgen: Die durch den Uranabbau verursachten Krankheiten müssten als Berufsunfall akzeptiert werden. "Die Anerkennungspraxis muss sich ändern."
Quelle:
taz.de

Freitag, 19. Dezember 2008

Dannenberg klagt gegen Nutzung einer Halle als Einsatzzentrale für Castor-Einsätze /19.12.08

Klage gegen Hallenumnutzung
Stadt Dannenberg zieht gegen das Land vor Gericht

Dannenberg. Im juristischen Kampf gegen die Landesregierung ist man im Lüchow-Dannneberger Nordkreis erfahren. Zuletzt kippten Vertreter der dortigen Kommunen Teile des Lüchow-Dannenberg-Gesetzes vor dem Staatsgerichtshof in Bückeburg und sorgten damit überregional für Aufsehen.

Jetzt geht man erneut in den juristischen Clinch mit dem Land. Und dieses Mal geht es um die Nutzung einer Mehrzweckhalle im Dannenberger Gewerbegebiet Breeser Weg als Zentrale für den Polizei-Einsatz während der Castor-Transporte.

Dies Halle wird von der Polizei schon seit Jahren zum Unterbringen und Verpflegen ihrer Einsatzkräfte genutzt, wenn Atommüll-Transporte nach Gorleben anstehen. Und 2002 bestätigte das Lüneburger Oberverwaltungsgericht, dass die Polizei dort ihre Leute entgegen dem Bebauungsplan, der eine solche Nutzung nicht vorsieht, unterbringen und verpflegen darf. Das OVG beschränkte diese Genehmigung jedoch bis zum Jahr 2010. Vergangenes Jahr brannte die Halle nieder und wurde durch einen Neubau ersetzt. Daraufhin beantragte die Polizei, also das Innenministerium und damit das Land bei der Regierungsvertretung in Lüneburg - ebenfalls eine Landesbehörde - erneut die Umnutzung der nun neu entstandenen Halle - dieses Mal jedoch bis zum Jahr 2018. Und die Regierungsvertretung sagte ja.

Dagegen wird die Stadt Dannenberg nun Klage einreichen, teilte Stadtdirektor Jürgen Meyer am Dienstag während der Sitzung des Stadtrates in Tramm mit. Und zwar noch in diesem Jahr, da die Klageerhebung aus formaljuristischen Gründen nur bis Ende dieses Monats möglich ist. Die Genehmigung der bebauungsplanfremden Nutzung der Mehrzweckhalle bis 2018 widerspreche dem Urteil des OVG und sei rechtlich nicht zulässig, argumentiert man im Rathaus der Jeetzelstadt. Und nicht wenige Dannenberger vermuten gar Mauschelei, wenn das Land als Antragsteller etwas beim Land als Entscheidungsträger beantragt und dem dann auch noch entsprochen wird.

Über die Erfolgsaussichten des Verfahrens will man im Dannenberger Rathaus nicht spekulieren. Dass man sich im Recht glaubt, zeige die Tatsache, dass man nun Klage einreichen werde, heißt es. Von der Regierungsvertretung in Lüneburg war zu dem bevorstehenden Verfahren ebenfalls nichts zu erfahren. Der zuständige Sachbearbeiter war für eine Stellungnahme nicht greifbar.
Quelle:
EJZ

Mittwoch, 17. Dezember 2008

Wendland: Kreistagsresolution zu Atommuell-Transport /17.12.08

»Verurteilt»
Kreistagsresolution zu Atommüll-Transport
Lüchow. Der Kreistag hat mit Mehrheit »nochmals seine ablehnende Haltung» zu den Atommülltransporten nach Gorleben bekräftigt. In einer Resolution fordert er, dass alle in diesem Jahr genutzten Transportbehälter von einer unabhängigen Institution auf Neutronenstrahlung unverzüglich nachzumessen und die Werte zu veröffentlichen seien.

Bislang hatte das Niedersächsische Umweltministerium am Umladekran in Dannenberg lediglich drei Stichproben gemessen. Dabei betont der Kreistag, dass der Transport in den elf französischen Behältern gegen das gesetzliche Minimierungsverbot verstoßen und zu unnötiger radioaktiver Belastung von Bevölkerung und Begleitpersonal geführt habe. Wiederholt wird die Forderung nach Falltests der Behälter in Originalgröße vor der Zulassung. Solange dies nicht geschehe, seien alle Transporte nach Gorleben auszusetzen.

Der Kreistag verurteilt außerdem die Einsatzpraktiken der Polizei. Vielfach seien Handgelenke verdreht und gesundheitsgefährdende Griffe am Kopf angewandt worden. Außerdem hätten Sondereinheiten der Polizei Menschen im Dunkeln in den Waldgebieten außerhalb des Verbotskorridors verfolgt, Wasserwerfer seien noch nach Passieren der Atommüllbehälter eingesetzt worden.

Der Kreistag kritisiert die Allgemeinverfügung für Versammlungsverbote sowie das Fehlen einer Begründung und missbilligt »die falsche und diskriminierende Einschätzung» von Innenminister Schünemann und Einsatzleiter Niehörster, was die Zahl gewaltbereiter Demonstranten angehe. Der Atommülltransport 2008 sei »vom bisher friedlichsten Protest begleitet» worden. Dabei stützt sich der Kreistag auf übereinstimmende Beschreibungen von Kirchenvertretern und Initiativen. Das Innenministerium solle zudem dafür sorgen, dass Abgeordnete nicht bei der Ausübung ihres Mandats gehindert werden.

Der Kreistag kritisiert in seiner Resolution schließlich »auf das Schärfste», dass keine der geladenen Behörden und Einrichtungen zur Sitzung des Atomausschusses Ende November gekommen waren. Die Begründungen für die Absagen widersprächen eklatant dem vom Bundesumweltminister Gabriel formulierten Postulat, in Zukunft für höchstmögliche Sicherheit und Transparenz zu sorgen. Deshalb erneuert der Kreistag seine Einladung zu einem zeitnahen Termin in den Fachausschuss Atomanlagen und fordert die Behörden auf, Bedenken der Einwohner des Landkreises erst zu nehmen und zu den offenen Fragen Rede und Antwort zu stehen.
Quelle:
EJZ

Donnerstag, 11. Dezember 2008

Leitender Mitarbeiter der GNS verschwunden /07.12.08

Verschollen im Gorlebener Salz?
Ein leitender Mitarbeiter des Atomspediteurs GNS ist verschollen. Grüne fragen nach möglichem Zusammenhang mit umstrittenen Strahlenmessungen beim Castor-Transport.
VON REIMAR PAUL

GÖTTINGEN taz Tatort Gorleben: Eine Leiche im Salz wie beim Fernsehkrimi vor vier Wochen gibt es zwar nicht, doch auch in einem realen Fall besteht Aufklärungsbedarf: Ein leitender Mitarbeiter der Gesellschaft für Nuklearservice (GNS), die für die Atomwirtschaft die umstrittenen Castor-Transporte abwickelt und über einer Tochterfirma die beiden Atommüllzwischenlager in Gorleben betreibt, ist seit rund zwei Monaten spurlos verschwunden. Brisant erscheint der Fall auch vor dem Hintergrund des Durcheinanders bei den Strahlenmessungen beim jüngsten Atommülltransport im November.

Dass der Mann vermisst wird, haben inzwischen sowohl GNS-Sprecher Jürgen Auer als auch der Staatssekretär im niedersächsischen Umweltministerium, Stefan Birkner (FDP), bestätigt. Laut Auer hatte sich der Kollege vor etwa acht Wochen "krankgemeldet". Seitdem habe die GNS nichts mehr von ihm gehört. "Alles Weitere obliegt seiner Familie, wir haben keine Möglichkeit, da Weiteres zu unternehmen", sagte Auer der taz. Nach Angaben von Birkner gilt der Mitarbeiter als "vermisst
Über die Aufgaben des Verschollenen bei der GNS gibt es nur nebulöse und zudem höchst widersprüchliche Angaben. Laut Auer ist er in die "betrieblichen Abläufe" beim Umladen der Castor-Behälter in Dannenberg eingebunden, mit den Strahlenmessungen habe er jedoch nichts zu tun. Nach Informationen des niedersächsischen Grünen-Fraktionschefs Stefan Wenzel ist er jedoch auch für die Strahlenmessungen an den Castoren zuständig gewesen. Staatssekretär Birkner teilte Wenzel in einem Brief mit, der Verschwundene sei "nicht als Strahlenschutzbeauftragter oder Sicherheitsbeauftragter tätig" gewesen.

Die Grünen wollen nun wissen, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden des Mitarbeiters und dem Wirrwarr um die Messwerte der Atommüllbehälter gibt. Beim jüngsten Castor-Transport nach Gorleben hatten widersprüchliche Meldungen über die Strahlung für Unruhe unter Beschäftigten, Anwohnern und Polizisten gesorgt. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace hatte bei Messungen in 14 Metern Abstand eine um 40 Prozent höhere Belastung durch Neutronenstrahlung als bei vergangenen Transporten festgestellt. Nach der Überprüfung von drei der insgesamt elf Behälter erklärte das Umweltministerium in Hannover, die Strahlung liege innerhalb der gültigen Grenzwerte - was bis dahin auch niemand bestritten hatte.

"Das Schreiben des Umweltstaatssekretärs bestätigt den Verdacht, dass in Deutschland keine einzige staatliche Institution die Einhaltung der Grenzwerte bei den Atombehältern tatsächlich gemessen hat", sagte der Grünen-Politiker Wenzel gestern der taz. In Dannenberg sei bei drei Behältern zwar stichprobenartig gemessen worden, allerdings nur "im Beisein von Vertretern des Gewerbeaufsichtsamtes und mit Geräten der GNS".
Quelle: taz.de

Dienstag, 2. Dezember 2008

Pastorenberichte 08 zum Castortransport n. Gorleben /02.12.08

Mit freundlicher Genehmigung des Seelsorge- und Deeskalationsteams der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers im Kirchenkreis Lüchow-Dannenberg veröffentlichen wir die unten aufgeführten "Pastorenberichte".
Vielen Dank, dass Sie alle da waren. Es tat gut die "weißen Westen" auf den zahlreichen Veranstaltungen zu sehen und zu erleben. Danke! (Admin.)

Inhaltsverzeichnis bzw Auflistung der einzelnen Berichte

--Schüler übernehmen Verantwortung
--Bierflaschen in Metzingen
--„Wo bin ich hier eigentlich“
--Zivilbeamte – Absurdes am Rande
--Für Verhandlungen angefragt
--Handschuhe
--Robin Wood an der Brücke
--Schäfchen im Wald
--Eine Nacht in der Gefangenensammelstelle
--„Komm ich jetzt im Fernsehen?“
--Lass wenigstens deine Weste da
--„Mensch, das können wir auch wirklich besser!“
--Was geschieht
--Gut, dass wir darüber geredet haben
--Schwarz oder Grün – unangemessen oder angemessen
--Die Frau hat Abitur
--Sexuelle Belästigung
--Treten Sie nicht auf unsere Helme!
--Räumung der Bäume
--Gorleben ist Sperrgebiet
--Der Süden grüßt den Norden
--Der Transport war längst schon durch
--Zusammenfassung eines Erstbeobachters

Anlagen
--Evangelische Jugend steht für Menschenwürde und Gewaltfreiheit
--Predigt in Langendorf nach dem Castor, Sprüche 26,12


Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen. (Matthäus 5,9)

Fazit
Die Seelsorge- und Deeskalationsteams der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers im Kirchenkreis Lüchow-Dannenberg haben in diesem Jahr die bislang friedfertigsten Proteste bei Castortransporten erlebt. An vielen Orten haben besonnenes Vorgehen das Handeln von Demonstrierenden und Polizei bestimmt. Dennoch haben die wenigen deutlichen Ausnahmen, die Zwischentöne und Veränderungen Gewicht.

- Auf Seiten der Demonstrierenden ist eine Demonstrationskultur gewachsen, die friedfertiges Handeln in die Breite trägt, sehr viele junge Demonstrierende integriert und Unfrieden stiftende an den Rand drängt.

- Den Meldungen, dass eine große Anzahl Demonstrierender „gewaltbereit“ gewesen sei, widersprechen wir ausdrücklich. Derlei Meldungen haben keinen Anhalt an der Realität. Das bestätigen die Beobachtungen unserer Deeskalationsteams, die an fast allen Orten des Geschehens präsent waren. Wer solche Meldungen lanciert hat, muss sich fragen lassen, welche Interessen ihn leiten.

- Gewalt wird subtiler, geschieht ohne beim flüchtigen Blick offensichtlich zu sein. Aber sie ist darum nicht weniger verletzend. Das gilt auch für sexistische Sprüche, demütigende Vorgehensweisen und verbale Übergriffe.

- Überhaupt nicht zu tolerieren ist, wenn subtile Gewalt von der Polizei ausgeht. Denn die Polizei verkörpert das staatliche Gewaltmonopol und muss darum besonders verantwortungsbewusst mit den Formen ihrer Gewaltanwendung umgehen.

- Mehr als in den vergangenen Jahren haben leitende Einsatzkräfte ein die Menschenwürde achtendes Verhalten gezeigt und dieses bei ihren ausführenden Beamten eingefordert.

- Allerdings konnten leitende Einsatzkräfte dieses nicht überall und nicht gegenüber allen bei der Räumung eingesetzten Beamten kommunizieren und durchsetzen.

- Die Verunsicherung darüber, ob die Strahlenwerte des Transportes gerade in Bezug auf die letzten drei Behälter eine Gefahr für Polizei und Bevölkerung mit sich bringen, hat auf allen Seiten Betroffenheit und Angst ausgelöst, und zwar so deutlich, dass wir uns gemeinsam mit der Kirchenleitung genötigt gesehen haben, eine Anfrage beim Innenminister des Landes Niedersachsen vorzubringen, wie es um die Sicherheit für Mitarbeitende, Begleitkräfte, Demonstrierende und Bevölkerung bestellt ist.

Immer wieder gab es in den vergangenen Jahren unterschiedliche Bewertungen der Gewaltbereitschaft von Demonstrierenden und der Polizei. Es wird immer deutlicher, dass der Begriff „Gewalt“ im Zusammenhang mit den Ereignissen um den Castortransport untauglich ist, weil er nicht im gesellschaftlichen Konsens definiert ist.

Wir haben sowohl bei der Polizei als auch bei den Demonstrierenden ein auf Frieden zielendes Verhalten beobachtet. Deswegen halten wir das Gegensatzpaar „friedfertig“ und „Unfrieden stiften“ für geeigneter als „gewaltbereit“ und „nicht gewaltbereit“. Der Begriff „friedfertig“ bringt den Willen zur Achtung der Menschenwürde aller Beteiligten, den solche Proteste brauchen, zum Ausdruck.

Bedrückend ist es, dass es im Laufe der Jahre deutliche Fortschritte zwar in der Demonstrationskultur und im polizeilichen Handeln, aber nicht im Blick auf eine gesellschaftlich akzeptierte, faire und transparente Standortauswahl für ein möglichst sicheres Endlager für hochradioaktiven, hitzeentwickelnden Atommüll gegeben hat. Eine solche Standortauswahl wäre das, was dem Frieden wirklich dient. Wir fordern sie.
gezeichnet Superintendent Propst Stephan Wichert-von Holten für insgesamt 52 Pastorinnen, Pastoren und Diakone der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers



Berichte
Stefan El Karsheh, Holger Kelbert, Stephan Wichert-von Holten
Schüler übernehmen Verantwortung
Freitag, 7. November; Lüchow; 10.00 – 13.00 Uhr
Etwa 500 Personen sind beteiligt, darunter ca. 100 ältere Personen. Der Zug verläuft nur von Konfliktmanagern der Polizei begleitet von der Bibliothek aus mit einem Musikwagen durch die Lüchower Innenstadt zum Marktplatz - dort findet die Kundgebung statt. Auch am Kreishaus gibt es eine längere Kundgebung, dann geht es weiter über den "SKF-Kreisel", Tarmitzer Straße, Salzwedeler Straße bis zum Saaßer Kreisel. Dort stoppt der Zug. Die am Ende des Zuges fahrenden Schlepper versperren auf dem Kreisel dem Musiktrecker an der Spitze den Weg zurück zum Stadtinneren. Der Demozug stagniert. Die Demonstrationsleitung (ein 17jähriger Schüler!!) macht entschieden darauf aufmerksam, dass die Demonstration am Marktplatz endet und nicht an der Polizeiabsperrung. Die Stimmung ist bis dahin entspannt bis fröhlich. Einige Schüler und Ältere lösen sich vom Demonstrationszug und wollen sich vom Kreisel auf den Weg zur Polizeisperre auf halbem Weg zur Polizeikaserne machen - zeitweise bis zu 100 Personen. Sie bleiben auf der Straße. Mehrere Ordner weisen beharrlich darauf hin, dass sich diese Gruppe nicht mehr im Rahmen der angekündigten Demonstration bewegt. Einzelne Eier fliegen, doch die Polizei greift nicht ein. Gegen 12.30 Uhr wandern schließlich alle zurück in die Stadt.

Im Vorfeld wurde befürchtet, dass die SchülerInnendemonstration eskalieren würde. Dass es nicht dazu gekommen ist, ist darauf zurückzuführen, dass die Schülerinnen und Schüler der Demonstrationsleitung selbst deeskalierend tätig geworden sind und dass die Polizeikräfte während der Demonstration kaum sichtbar waren.



Jens Rohlfing, Johannes Link, Henning Schulze-Drude
Bierflaschen in Metzingen
Freitag, 7. November; Metzingen; ab 18.00 Uhr
Wir werden nach Metzingen gerufen. Gegen 18.00 Uhr kommen wir an. Auf der Bundesstraße befinden sich cirka 200 Menschen. Mehrere kleine Holzfeuer und ein Müllcontainer brennen. Ein Flutlichtmast erleuchtet die Szene. Wir stellen uns dem Einsatzleiter vor, der gerade zum zweiten Mal zum Verlassen der Straße aufgefordert hat. Wir bitten ihn um etwas Zeit, damit wir uns einen Eindruck von der Situation machen können und bekommen 10 Minuten bis zu Räumung.

Wir gehen durch die Menge. Die Stimmung ist latent aggressiv. Eine Bierflasche fliegt. Jens Rohlfing erkennt nur wenige Gemeindeglieder, die sich auch eher am Rand der Straße aufhalten, unter ihnen auch die stellvertretende Vorsitzende des Umwelt- und Bauausschusses der Hannoverschen Landessynode.

Die Polizeikräfte rücken etwas näher. Ein Videoteam filmt. Einen Sprecher oder Koordinator der Demonstrierenden scheint es nicht zu geben. Ein Bekannter spricht uns an und bittet um Vermittlung: „Wenn die Polizei jetzt Druck macht, entsteht nur Gegendruck.“ Wir gehen zur Polizeileitung. Als Zeichen des guten Willens wird für einige Minuten das Flutlicht ausgeschaltet. „Aber dann dürfen keine Gegenstände mehr geworfen werden. Sonst machen wir das Licht sofort wieder an.“

Diese Goodwill-Aktion wird aber nicht über Lautsprecher vermittelt. Jens Rohlfing bekommt ein Mikrofon von einem Lautsprecherwagen der Demonstrierenden in die Hand gedrückt, um das „Verhandlungsergebnis“ bekannt zu machen. Im selben Moment geht das Licht schon wieder an. Er fordert die Demonstrierenden auf, nicht mit Flaschen und Steinen zu werfen. Inzwischen ist der Einsatzleiter nicht mehr zu sprechen; uns wird mitgeteilt: „Die Maßnahme läuft jetzt.“

Auf der Südseite der Bundesstraße formiert sich eine Polizeikette, aus der mehrere Male unvermittelt Mitglieder der „Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit“ vorpreschen und einzelne Demonstrierende herausgreifen und festnehmen. Dadurch eskaliert die Situation, weil die fliehende Menge gegen Hecken und Hauswände gedrückt wird.

Flaschen fliegen und verletzen mehrere Demonstrierende. Ein Pressefotograf geht zu Boden und wird von einem Sanitäter versorgt. Eine Anwohnerin öffnet die Tür des ehemaligen Gasthofes, damit ein Verletzter im Flur versorgt werden kann.

Eine Gruppe von cirka 40 Polizisten steht, von Demonstrierenden umringt, auf einem kleinen Privatparkplatz der ehemaligen Gaststätte. Die Demonstrierenden haben den Eindruck, dass die Polizei nicht weiß, was sie will. Die Situation ist angespannt. Manche Beamte werden wütend beschimpft. „Guck mal, der hat ein Gesicht wie ein SS-Mann.“

Nur langsam entspannt sich die aufgeheizte Stimmung und es gelingt dem Mann am Lautsprecherwagen, die Demonstrierenden zum „Plenum“ ins Camp zu bewegen.

Henning Schulze-Drude erfährt über den Ermittlungsausschuss, dass vier Personen festgenommen wurden und auf dem Weg in die Gefangenensammelstelle in Lüchow sind. Er gibt die Namen an Propst Wichert-von Holten weiter, der sich gegen 22.30 Uhr zusammen mit Pastorin Heitkamp auf den Weg zur Gefangenensammelstelle macht.



Stephan Wichert-von Holten; Julia Heitkamp
„Wo bin ich hier eigentlich“
Freitag, 7. November, 22.30 – 4.20 Uhr; Gefangenensammelstelle in Lüchow
Wir sind gegen 22:30 in der Gefangenensammelstelle eingetroffen. Gleichzeitig mit uns kamen die vier in Metzingen in Gewahrsam genommenen Personen an.
Im Vorgespräch mit Herrn Schomburg, dem Polizeiinspektions-Leiter aus Celle, in dessen Händen die Verantwortung für die Gefangenensammelstelle lag, war uns ungehinderter Zutritt zugesagt worden. Trotzdem hatten wir etwas Schwierigkeiten, das Gelände ungehindert betreten zu können. Die Nachtwache war nicht darauf vorbereitet, dass wir kommen würden. Es war mühsam, die Verabredungen zu aktualisieren und gleichzeitig zu versuchen, die ankommenden Jugendlichen zu betreuen.

Uns wurde erlaubt, sie vor der erkennungsdienstlichen Behandlung anzusprechen. Wie im Vorgespräch angekündigt, durften wir das Gebäude der erkennungsdienstlichen Erfassung nicht betreten. Darüber hinaus herrschte ab dato die zugesicherte Bewegungsfreiheit.

Bis alle vier Personen in die Zellen verbracht waren, vergingen einige Stunden. Besonders ein nur englisch sprechender junger Mann war hochgradig irritiert, hatte Angst, sich nicht hinreichend verständlich gemacht zu haben und hätte sich bereits vorher Begleitung im Gebäude während der langen Wartephasen gewünscht. Ab circa 4:00 Uhr hat Propst in Ruhe Wolters die Betreuung übernommen.

Wir haben das Gelände verlassen und am Stadtrand Lüchows eine junge Frau angetroffen, die wir eigentlich noch in der Gefangenensammelstelle vermuteten. Entgegen der Verabredung mit den Polizeikräften ist uns nicht mitgeteilt worden, dass diese Frau bereits entlassen war.

Eine junge Frau mitten in der Nacht allein, ohne Ortskenntnisse und die Möglichkeit, zu telefonieren, einfach hinauszuschicken, widerspricht deutlich der nötigen Fürsorgepflicht. Sie wusste nicht, in welcher Stadt sie ist und wie sie um diese Uhrzeit hier wegkommen solle. Abgesehen von dieser Tatsache berichtete die Frau von einer guten Behandlung durch die Beamten. Wir haben sie dann in ihre Unterkunft gebracht.



Michael Ketzenberg
Zivilbeamte – Absurdes am Rande
Samstag, 8. November; Neu Tramm, Polizeikaserne; 0.20 Uhr
Auf dem Rückweg vom Streetzer Kreisel nach Breselenz mache ich alleine einen „Abstecher“ nach Neu Tramm, eigentlich nur um zu sehen, ob ich noch Menschen der Breselenzer Castorgruppe treffe. Ich komme direkt auf folgende Szene zu: Zwei junge Frauen (eine Jugendliche) und drei junge Männer (ebenfalls ein Jugendlicher) stehen mit gespreizten Beinen am Tor der Einfahrt zur Kaserne, die Arme ebenfalls gespreizt. Sie stützen sich am Gittertor ab. Polizeibeamte einer Einheit aus Nordrhein-Westfalen sind bei ihnen. Sie werden durchsucht.

Um Näheres zu erfahren, mache ich mich dem Truppführer bekannt. Er informiert mich über die Situation: Die jungen Leute wollten angeblich mit ihrem PKW auf das Gelände der Polizei fahren – unter dem Vorwand, sie seien Zivilbeamte. Zudem soll es auffällige Gerüche (Rauschmittel) im Fahrzeug gegeben haben.

Es folgt eine umständliche Durchsuchung. Zunächst wird der PKW durch das Tor gebracht. Ich bin mit dem Polizisten in das Auto gestiegen, damit der Besitzer Sicherheit hatte, dass an dem Fahrzeug nichts verändert wurde. Die Durchsuchung des Fahrzeugs blieb erfolglos, ebenso auch die der Insassen.

Sie wurden nacheinander in das Gebäude gebracht und dort gab es eine Leibesvisitation (nach Waffen und Rauschmitteln). Ich konnte dafür sorgen, dass eine Polizistin die Durchsuchung bei den Mädchen durchführte.
Nach einem langen Procedere wurden die Fünf nacheinander freigelassen, die Jugendlichen mit der Auflage, sich von einer Aufsichtsperson nach Hause bringen zu lassen. Personalien wurden aufgenommen. Ob es zu einer Anzeige wegen Amtsanmaßung kommt, ist zu diesem Zeitpunkt nicht klar.

Ich habe im Nachhinein eine zeitlang mit dem Besitzer des Fahrzeugs gesprochen. Er ist mir persönlich bekannt, auch zwei der Jugendlichen. Nach seiner Aussage hatten sie lediglich die Absicht, auf das Gelände der benachbarten Diskothek zu fahren, um dort an der Feier teilzunehmen. Sie hatten nur versehentlich die falsche Einfahrt gewählt. Von „Zivilbeamten“ sei zu keiner Zeit die Rede gewesen.

Ich halte die Personen durchweg für glaubwürdig. Das Verhalten der Beamten insbesondere des Truppführers hielt ich die ganze Zeit für übertrieben und auch unangemessen, da offensichtlich nichts gegen die Personen vorlag und sie unverschuldet in die Situation geraten waren.
Diese Einschätzung teilten auch die anderen, obwohl der jeweilige Umgang mit ihnen durchweg friedlich und freundlich war. Zu fragen bleibt, inwiefern die Einschätzung der Polizei tatsächlich realistisch war.



Stefan El Karsheh, Holger Kelbert, Stephan Wichert-von Holten
Für Verhandlungen angefragt
Sonntag, 9. November; Gorleben, vor dem Zwischenlager; ab 14.45 Uhr
Nach dem Gorlebener Gebet unter Leitung von Ehepaar El Karsheh mit 120 Teilnehmern schließt sich Holger Kelbert gegen 14.45 Uhr der Pastorengruppe vor dem Zwischenlager an. Dort hat schon eine große Zahl von Demonstrierenden die Nacht verbracht und mit dicken Ästen und Plastikplanen eine Art Hüttendorf installiert. Ein Dutzend Trecker stehen am Straßenrand gegenüber dem Zwischenlager. Sie sind dort nach der Auftaktdemonstration geparkt worden. Die Polizei hält sich im Hintergrund und greift auch beim Aufbau der „Hütten“ nicht ein. Demonstrierende können den Ort ungehindert betreten und verlassen. Bis auf die Robin Wood-Aktivisten auf zwei Bäumen gibt es keine auffälligen Aktionen.

Die Stimmung ist entspannt. Erst am Abend, nachdem die Konfliktmanager der Polizei den Pastoren das Verlangen der Polizei mitgeteilt haben, die Aufbauten sollten möglichst bald abgebaut werden, macht sich etwas Sorge breit. Die Konfliktmanager erwarten den Einsatz von Räumgerät, das zu einer Eskalation der Situation führen könnte.

Stefan El Karsheh und Stephan Wichert-von Holten berichten dem SprecherInnenrat der Demonstrierenden von diesem Gespräch. Die Polizei-Kontaktleute der Widerstandsgruppen „x-tausendmal quer“ und „Widersetzen“ halten zwei Handlungsoptionen für möglich: Einerseits könnte ein Teil der Sitzblockade vor der Räumung sich von den Aufbauten entfernen und sich einige hundert Meter weiter Richtung Gorleben neu positionieren. Oder die gesamte Gruppe entschließt sich, an Ort und Stelle zu bleiben. Es gibt jedoch keine Konsequenzen: alle Aufbauten verbleiben bis zum nächsten Tag.



Michael Gierow, Simon Kramer, Michael Ketzenberg
Handschuhe
Sonntag, 9. November; Bahnübergang Harlingen; 15.30 Uhr
Ein uns bekannter Kirchenvorsteher ruft uns. Beim Bahnübergang wurden ca. 15 Personen festgehalten. Insbesondere geht es um einen Jugendlichen, der auf der Straße von einem Polizeifahrzeug angefahren wurde. Er hatte zudem Motorradhandschuhe an, die laut Aussage der Polizei bei Versammlungen nicht erlaubt sind, weil sie aufgrund der Protektoren als Waffen eingesetzt werden könnten. Allerdings war dies keine Versammlung.

Es bestand zu keiner Zeit die Absicht der festgehaltenen Personen, die Gleise zu blockieren. Sie waren lediglich zu Fuß auf der Straße und dem Bahnübergang unterwegs. Sie wollten den Platz freiwillig verlassen, wurden aber von der Polizei festgehalten. Dabei ist es dann zu dem Zusammenstoß gekommen.

Angeblich hatte der Jugendliche den Weg für die Polizei blockiert. Er wurde dann verhört und seine Personalien wurden aufgenommen. Eine Anzeige sollte folgen. Anzeige gegen den Fahrer des Polizeifahrzeuges sollte ebenfalls gestellt werden. Nach Angaben der anderen aus der Gruppe dauerte die Befragung des Jugendlichen schon 45 Minuten an.

Als Jugendlichen hätte die Polizei ihn unverzüglich seinen Eltern übergeben müssen. Die waren zwar benachrichtigt worden und unterwegs, um ihn zu holen. Da sie aber knapp eine Stunde Anfahrtsweg hätten, stellt sich ein Mann aus der Gruppe als erwachsene Vertrauensperson zur Verfügung, damit der Jugendliche aus dem Gewahrsam entlassen werden kann. Er und die anderen in diesem Zusammenhang Festgehaltenen bekommen einen Platzverweis entlang der Bahnstrecke ausgesprochen. Der Truppführer vor Ort wird von uns informiert, dass wir diese Angelegenheit ebenfalls protokollieren werden.
Frage: Warum dürfen Spaziergänger oder Motorradfahrer keine geeigneten Handschuhe tragen? Und: Warum werden Menschen festgehalten, obwohl sie freiwillig gehen wollen?



Stefan Giesel
Robin Wood an der Brücke
Sonntag, 9. November; ab 21.00 Uhr; Oldendorfer Brücke
Robin Wood Aktion an der Oldendorfer Brücke: Zwei Aktivistinnen hängen sich in die Brücke und werden nach cirka einer Stunde von der Polizei abgeseilt, alles geht friedlich zu. Demonstrierende stehen im Feld, schauen zu, klatschen und trommeln, davor stehen dichte Polizeikette.

Um 23.00 Uhr nähert sich der Castor nähert (zu sehen an den Hubschraubern): Einige Demonstrierende versuchen auf die Gleise zu kommen, doch ein großes Polizeiaufgebot verhindert das. Gegen 23.30 Uhr fährt der Castor-Zug durch.



Michael Gierow, Simon Kramer, Michael Ketzenberg
Schäfchen im Wald
Sonntag, 9. November; im Wald an der Bahnschiene zwischen Harlingen und Govelin; gegen 21.30 Uhr
Wir sind zusammen mit unseren Kollegen Jens Rohlfing, Johannes Link und Helga Kramer an der Bahnschiene, die zuvor von ca. 300 Menschen blockiert wurde. Diese waren vorher vom Infopunkt an der „bunten Hütte“ aus mit weiteren ca. 150 Demonstrierenden dorthin aufgebrochen. Wir haben sie bis hier begleitet.

Während das Kollegen-Team direkt an der Schiene ist, um die Auflösung der Blockade zu begleiten, bleiben wir nahe der Bahnstrecke im Wald, um dort zu agieren, da diejenigen, die es nicht bis zu den Gleisen geschafft hatten, sich dort (außerhalb der 50 m-Zone) aufhalten. Die Polizei (eine Einheit aus Hamburg) hat inzwischen eine Beamtenkette vor dem Bahndamm errichtet.

Während die Vorbereitungen zur Auflösung der Blockade an den Schienen beginnen und außerhalb der Schiene eine fröhliche Stimmung herrscht – die „Gorleben-Singers“ tragen mit ihrem Gesang dazu bei, einzelne Einsatzkräfte in der Kette führten freundliche Gespräche mit Demonstrierenden – stürmen „wie aus dem Nichts“ Einsatzkräfte einer anderen Einheit in den dunklen Wald. Dies geschieht in schnellem Tempo und mit viel Rufen und undurchsichtigen Aktionen seitens der Polizei.

Wir gehen hinterher und werden äußerst ruppig von einigen dieser Beamten angesprochen. Auch nachdem wir unsere Identität und Aufgabe erklärt hatten, wurde der Ton keinesfalls besser. „Dann kümmern Sie sich mal besser um Ihre Schäfchen. Wenn Sie die im Griff hätten, würden die nicht so ’n Sch….. machen.“
Wir fragen nach, was genau geschehen ist. „Auf so doofe Fragen antworte ich gar nicht!“ Obwohl wir nochmals deutlich machen, was unsere Aufgabe hier sei und dass wir keine Fronten aufbauen wollten, werden wir grob weggeschickt: „Das sagen sie alle. Sehen sie zu, dass Sie hier wegkommen.“ Und sie stürmen weiter.
Was genau im Wald daraufhin geschieht, können wir nicht einschätzen. Immer wieder ist Geschrei zu hören. In jedem Fall macht der Einsatz einen äußerst unangemessenen und unkoordinierten Eindruck. Möglicherweise verläuft diese Aktion auch im Sande.

Die Hamburger Einheit indes ist kooperativ, lässt uns auch nachher zu den vor Ort in Gewahrsam Genommenen, die von der Schiene nach oben getragen wurden.
Dass die Schäfchen im Wald sich vor den Wölfen in Sicherheit bringen konnten, bleibt zu hoffen.



Meike Drude
Eine Nacht in der Gefangenensammelstelle
Sonntag, 9. November; Lüchow, Gefangenensammelstelle; ab 19.30 Uhr
Vorweg: Bei unserem Vorgespräch in der Polizeiinspektion in Lüchow (auf dessen Gelände die Gefangenensammelstelle untergebracht ist, außerdem eine Außenstelle des Amtsgerichtes Dannenberg, Räume für Anwälte und auch für uns Seelsorger,) mit Herrn Schomburg, Leiter dieses gesamten Bereiches während der Castorzeit (zugegen waren: Hans Jürgen Wolters, Rainer Künne-Rosien, Julia Heitkamp und Meike Drude), wurde uns unmissverständlich deutlich gemacht, dass wir in dem Gebäude, in dem die erkennungsdienstliche Behandlung durchgeführt wird, absolut nichts (mehr) zu suchen hätten. Begründet wurde diese Maßnahme damit, dass die Gerichte verfügt hätten, die Zeit von der Ankunft in der Gefangenensammelstelle bis zur Vorführung beim Richter dürfe für eine in Gewahrsam genommene Person eine Stunde nicht überschreiten, sonst könnte die Polizei nachträglich belangt werden. Das wolle man vermeiden. Außerdem wurden wir auf den Datenschutz hingewiesen, der nicht mehr gewährleistet sei, wenn wir zugegen wären.

Zugesichert wurde uns, dass wir Gefangene und In-Gewahrsam-Genommene im Polizeifahrzeug (Gefangentransport) aufsuchen dürften, um uns vorzustellen, und dass wir mit Festgenommenen im Zelt auch reden dürften. Außerdem wurde uns zugesichert, dass wir benachrichtigt würden, wenn Gefangene einträfen.
Nichts davon ist umgesetzt worden.

Fakt war, dass wir überhaupt keine Möglichkeit hatten, mitzubekommen, wenn ein Gefangenentransport ankam. Nur durch Zufall wurden wir darauf aufmerksam. Aber erst, nachdem sie schon den Durchlauf durch die Erkennungsdienstlichen Behandlung in dem dafür vorgesehenen Gebäude begonnen hatten.

Eine gute Möglichkeit, mit den In-Gewahrsam-Genommenen zu reden, bot sich in Gebäude 3, vor dem “Amtsgericht” auf dem Flur beim Warten auf die Verhandlung. Getränke wurden gerne angenommen, Käsebrote auch, und vor allem die Informationen der Bürgerinitiative über den „Stand der Dinge“, die ich immer auf mein Handy bekomme! Der Kontakt war schnell hergestellt: „Die steht ja auf unserer Seite!” - Ein Stück Erleichterung in der „Mühle der Polizei”.
So habe ich es in der Nacht vom 9. auf den 10. November erlebt. Seit 19.30 Uhr war ich zugegen, zunächst zusammen mit Ulrike Müller, die schon da war.

Anruf vom Ermittlungs-Ausschuss (22.48 Uhr): Da ist eine junge Frau, die ist festgenommen, sie ist verletzt, braucht seelsorgerlichen Beistand. Der Name wird mir mitgeteilt. (Berit B.)
Ich gehe zum Erkennungsdienst-Gebäude, frage nach der jungen Frau. Man will sich erkundigen. Ich warte draußen. Nach einiger Zeit: Ja, sie sei da, habe ein Gespräch mit dem Staatsanwalt. Ich könne erst mit ihr reden, wenn das zuende sei. Ich darf warten. Vor der Tür.

Ein freundlicher Sanitäter verspricht, mehr herauszubekommen. „Etwa eine Viertel Stunde wird es noch dauern.” Etwa eine dreiviertel Stunde. Endlich kommen Beamte mit Berit die Treppe herunter. Ich öffne die Tür. Sie muss noch ihre Sachen holen, wird dann “da” (Beamter zeigt in eine Richtung) herausgeführt. Ich begebe mich dorthin. Warte wieder. Frage irgendwann nach. Nein, sie sei schon weg, aus der anderen Tür. Sie wollte nun nicht mehr warten.
Ich eile zum Ausgang. Treffe sie schließlich an der Bushaltestelle. Spreche sie an. 1. Satz: “Aber nur, wenn du mich nicht bekehren willst.” Nein, keine Sorge!

Sie erzählt: Sie wurde etwa um 19.15 Uhr in Metzingen festgenommen, nachdem sie getreten und verprügelt worden ist. Sie sagt, sie sei gerade erst dort angekommen, hätte nichts gemacht. Beamte seien aus dem Auto gesprungen, hätten sie niedergerissen und misshandelt. (Sie war wohl vermummt.) Sie zeigt mir ihre blauen Flecke, vor allem auch im Gesicht. Sie hat sich wohl gewehrt. Vorgeworfen wird ihr: Landfriedensbruch, Körperverletzung und Beleidigung.
Ganz allein habe sie dann im Gefangenenkraftwagen in einer Zelle gesessen. Konnte nichts sehen. Die Fahrt war lang. Ab und zu hat der Fahrer wohl gefragt, ob sie o.k. sei.

Um 20.30 Uhr ist sie in der Gefangenensammelstelle angekommen. Um 0.00 Uhr ist sie freigelassen worden. (3 ½ Sunden später) Ein Gespräch hatte sie nur mit dem Staatsanwalt, nicht mit einem Rechtsanwalt. Sie hatte die Auskunft bekommen, die hätten zu viel zu tun. Sie hat auch nicht darauf bestanden, dass einer kommt, wollte am Liebsten ihren eigenen, aber das ging natürlich nicht.
Der Anruf vom Ermittlungsausschuss an mich kam um 22.48 Uhr mit der Bitte um Seelsorge. Der Kontakt kam erst um 0.15 Uhr zustande. Berit erzählt, sie sei gut behandelt worden, auch ärztlich untersucht. Aber sie hätte stundenlang auf einem Stuhl gesessen und gewartet.

Ich frage sehr entschieden: Warum gibt es keine Möglichkeit, mit einer Festgenommenen zu sprechen. Ich möchte, dass dafür ein Raum zur Verfügung gestellt wird.
Festgenommene, die nicht in eine Zelle kommen, weil ja nun ein Strafverfahren anhängig ist, müssen nicht innerhalb eines kurzen Zeitfensters erkennungsdienstlich behandelt werden. Als die anderen drei ankamen, wurden die selbstverständlich vorgezogen und Berit musste warten.

Es ist eine dringende Bitte an die Polizei, dass uns ein Raum zur Verfügung gestellt wird für seelsorgerliche Gespräche, beziehungsweise, dass es einen Warteraum gibt, in dem wir in Wartezeiten zugelassen werden. So war Seelsorge im Grunde nicht möglich. Ich bin nicht von der Polizei unterrichtet worden, auf Nachfrage hin wirkten sie allerdings freundlich und bemüht.

Um 1.15 Uhr ist der Castorzug in Dannenberg. Die drei bei Hitzacker festgenommenen Greenpeaceaktivisten, die für cirka zwei Stunden in einer Zelle waren, werden freigelassen, weil der Grund für die Ingewahrsamnahme weggefallen ist. Ich schaue nach, ob sie wirklich freigelassen werden, begleite sie zum Tor. Dankeschön für meine Arbeit. „Du machst einen tollen Job!” Das tut gut!
Alle sind frei, ich will die Gefangenensammelstelle verlassen (ca. 1.30 Uhr). Vor dem Tor fährt ein Bulli vor mit Widerständlern, die von weiteren sieben Personen erzählen, die in Gewahrsam genommen worden seien. Erkundigungen in der Gefangenensammelstelle bestätigten das. Der Ermittlungs-Ausschuss teilt mir telefonisch Namen von vier Leuten mit, mehr sind nicht bekannt, und dass ein Jugendlicher dabei sei.

Der Junge, 17 Jahre, aus Hamburg, wird mir gegen 4.45 Uhr von Herrn Schmidt vom Jugendamt übergeben. Ich soll dafür sorgen, dass er mit dem Bus nach Lüneburg und weiter nach Hamburg kommt. Um 6.15 Uhr setze ich ihn am Busbahnhof in den Bus nach Lüneburg.



Jens Rohlfing,
„Komm ich jetzt im Fernsehen?“
Sonntag und Montag, 9. und 10. November; Tollendorf & Gorleben
An mehreren Stellen (in Tollendorf und vor dem Zwischenlager) beobachte ich, dass sich Polizeibeamte darüber lustig machen, wie Sitzblockierer beim Wegtragen von der anwesenden Presse gefilmt werden: „Komm ich jetzt im Fernsehen?“ „Einmal in die Kamera winken!“ Grundsätzlich finde ich einen humorvollen Umgang gerade auch in angespannten Situationen gut. Aber in diesem Fall ärgert es mich, dass der Ernst des entschiedenen Protestes auf diese Weise verharmlost wird. Ich habe nicht den Eindruck, dass irgendjemand nur aus Spaß oder um ins Fernsehen zu kommen die Strapazen einer Sitzblockade auf sich nimmt.

Manche Beamte habe ich auch sagen hören: „So, jetzt kannst du selber laufen, hier ist keine Kamera mehr.“ Einige Demonstrierende berichten auch von umgedrehten, noch lange schmerzenden Handgelenken und Griffen ins Gesicht, sobald sie nicht mehr im Scheinwerferlicht waren.



Julia Heitkamp, Jörg Prahler, Andreas Tuttas
Lass wenigstens deine Weste da
Montag, 10. November; Quickborn; ab 9.30 Uhr
Seit etwa 20.30 Uhr des Vorabends blockierten 42 Trecker die Hauptstraße. In der ganzen Nacht war nichts passiert und die Polizei beschränkte sich auf die Verkehrsregelung. Ab etwa 9.30 Uhr brachte sich die Magdeburger Polizei unter der Einsatzleitung von Herrn Krautwald in Stellung. Es fand eine Kontaktaufnahme mit der Einsatzleitung statt, die darüber informierte, dass die Treckerblockade geräumt wird. Die Europaabgeordnete Rebecca Harms übernahm die Vermittlerrolle zwischen der Einsatzleitung und den Treckerfahrern. Es wurde sondiert, ob die Trecker freiwillig entfernt würden, welches von den Bauern abgelehnt wurde. Deshalb begann die Polizei um 11.09 Uhr mit der ersten Aufforderung die Blockade aufzulösen, mit der Ankündigung der Konsequenz die Trecker zu beschlagnahmen, wenn dies nicht geschehen würde, sicherte aber zu, jeder Trecker könne jederzeit vom Halter ohne Konsequenzen aus der Blockade entfernt werden.

Doch dann kam es erst mal ganz anders: Aus dem Nirgendwo erschien ein alter Lastwagen mit Ladepritsche und einer blauen übergezogenen Plane. Der Laster fuhr querfeldein übers Feld und stellte sich dann auf die Straße zwischen Trecker und Polizei. Beamte hasteten mit Helm und Stock zu dem Fahrzeug und umstellten es, da wurde die Plane hochgeschlagen und ein Mann im Katzenkostüm sprang von der Ladefläche und begann zu singen. Auf der Pritsche waren ein Schlagzeug, eine Verstärkeranlage und eine ganze Punkband aufgebaut, die nun erst mal für ein bisschen Musik sorgten. In den vorangegangenen Tagen waren immer Flugblätter mit der Aufschrift „Rent A Punk“ aufgetaucht. Nun konnten wir selber Zeuge dieser Truppe werden.
Nach einer gewissen Zeit hatte sich die Polizei davon überzeugt, dass von der Katze und dem Rest der Band keine weitere Gefahr ausging und sie zog sich erst einmal wieder zurück. Schließlich fuhr auch die Band wieder zu neuen Einsatzorten und die Polizei begann von vorn.

Aufforderungen, Aufforderungen und noch einmal Aufforderungen. Nach den ersten drei allgemeinen Aufforderungen forderte die Polizei dreimal jeweils drei Fahrzeughalter mit Nennung des jeweiligen Kennzeichens auf, die Fahrzeuge zu entfernen. Mit der vierten Ankündigung wurden die Fahrzeuge beschlagnahmt. Die Polizei begann nun die anwesenden Demonstrierenden abzudrängen, was bei den ersten sechs Treckern recht ruhig vonstatten ging. Auf dem siebten Trecker saß dann auf dem aufgerichteten Frontlader ein Aktivist, der nicht bereit war, freiwillig seinen luftigen Ort zu verlassen. Es wurden auch seitens der Polizei keine Versuche unternommen den Mann hinunter zu befördern.

Der Einsatzleiter nahm das Höheninterventionsteam der Polizei in Anspruch, um den Aktivisten zu entfernen, was sich aber nicht als so einfach entpuppte: Zuerst sollte ein Korb oder ein ähnliches Hilfsmittel an Seilen von einem Kran auf die entsprechende Höhe gezogen werden, dorthin wollte man den Aktivisten offensichtlich hinüberziehen und dann sich auf den Boden zurück befördern. Der junge Mann aber griff in die Seile, die vom Kran herunterhingen und kletterte auf den Kran selbst hinauf. Zunächst wollte man den Kran wieder einziehen, doch auch dafür war der Aktivist zu behände und dann saß er hoch in der Luft an einer Stelle, an der man den Kran nicht weiter einziehen konnte ohne ihn ernsthaft zu verletzen. Was nun, brauchte man jetzt einen Kran für den Kran?

Aber diese Herausforderung löste das Höheninterventionsteam in aller Ruhe ganz souverän. Dem jungen Mann wurde ein Haltegeschirr angelegt und dann wurde er sanft und sicher zu Boden herunter gelassen. Pastor Prahler und Pastorin Heitkamp begleiteten den jungen Mann zur Personalienfeststellung, danach wurde er in Gewahrsam genommen und in die Gefangenensammelstelle nach Lüchow gebracht. Die Beamten ermöglichten uns Seelsorgern jederzeit, mit dem Aktivisten zu sprechen, sein Name durfte notiert und weitergegeben werden. Der Ton war immer freundlich und sachlich.

Nun begann die Phase, in die Souveränität jedoch auf allen Seiten schwand. Das Wegdrängen fand nun nur noch auf dem Gehweg, zwischen dichter Hecke auf der einen und Trecker auf der anderen Seite, statt. Es wurde ruppiger, weil sich immer mehr Demonstrierende den Polizisten entgegenstemmten und die Polizei kaum noch Raumgewinn verzeichnen konnte. Nun setzten die Polizisten ihre Helme auf, von beiden Seiten wurden Tritte und Schläge der jeweils anderen Seite beklagt. Gegen 14.30 Uhr setzte die Polizei mehr Druck ein, um die restlichen Demonstrierenden zurückzudrängen. Dass Demonstrierende dabei verletzt werden würden, wurde in Kauf genommen. Denn zwischen Hecke und Trecker eingeklemmt, gab es keine Ausweichmöglichkeiten. Wer gefallen wäre, wäre einfach plattgetreten worden. Ein Journalist wurde von hinten von Polizisten in den Rücken geschlagen und seine Brille am Kopf zerstört.

Gegen 21.30 Uhr sprach uns ein Polizeisprecher mit der Bitte an, ob es uns nicht möglich sei, auf unauffällige Weise den fehlenden Treckerreifen zu besorgen. Als ortsansässigen kam es dann Andreas Tuttas zu, mit den Landwirten zu verhandeln und der Einsatzleitung die Bedingungen mitzuteilen. Der Einsatzleitung war daran gelegen den Trecker auf normalem Wege, ohne schweres Gerät, von der Straße zu bekommen und akzeptierte die gestellten Bedingungen. So fand sich der fehlende Treckerreifen unter Applaus der Demonstrierenden auf wundersame Weise wieder an und alle beteiligten Personen waren zufrieden. Als dann der letzte Trecker von der Straße war, durften alle Demonstrierende sich frei vom Versammlungsort entfernen.

Als wir uns von den Demonstrierenden verabschiedeten waren sie darüber nicht glücklich: „Du kannst uns hier doch nicht alleine lassen. Lass uns wenigstens deine Weste da.“ Ein Satz, der meine Einschätzung in diesem Einsatz bestärkt, dass wir als Seelsorger von beiden Seiten respektiert, geachtet und gebraucht wurden.



Stephan Wichert-von Holten
„Mensch, das können wir auch wirklich besser!“
Montag, 10. November; Gorleben, vor dem Zwischenlager; 6.00 – 17.30 Uhr
Den größten Teil der Räumung der Sitzblockade habe ich direkt vorne an der Stelle verbracht, an der die berliner Hundertschaft der Bundespolizei eingesetzt war. Diese Einsatzkräfte haben mit der Räumung, zunächst mit der Abdrängung der im ersten Drittel des südlichen Straßenteils befindlichen stehenden Demonstrierenden, begonnen. Bereits da ist aufgefallen, dass die Gruppenführer und die Einsatzleitung diese Beamten zur Ruhe ermahnen mussten und deutlich lenkend eingriffen.

Erst als die Bundespolizei die ersten Sitzblockierenden weggetragen hatte, kamen Beamte der niedersächsischen Landespolizei (allerdings hörte man auch deutlichen westfälischen Slang bei einigen Beamten) dazu und übernahmen nun die Waldseite der Blockade. Die Beamten wurden während der mehrstündigen Räumung nicht mehr ausgewechselt.

Gleich zu Anfang bin ich auf zwei Polizeibeamte aus Berlin zugegangen, die eine junge Frau hinter sich her schleiften, der die Kleidung hoch gerutscht war und die nun über den Asphalt rutschte und deshalb schrie. Die beiden Polizisten ließen sich nicht stoppen und sagten nur: „Die will das so, die Alte kennt das von zu Hause.“

Ich habe daraufhin den Konfliktmanager Herrn Grube gebeten, hier klärend einzugreifen. Wiederholt waren diese beiden Beamten bei unverhältnismäßig hartem Vorgehen zu beobachten. Die Namen der Beamten ließen sich nicht ermitteln. Ihr Verhalten besserte sich erst, als vorgesetzte Beamte sie scheinbar im Auge behielten.

Die Bundespolizisten fielen dadurch auf, dass sie in der Regel nicht zu viert, sondern zu zweit die Demonstrierenden aufnahmen und zu tragen versuchten. Sie waren unnötig schnell dabei, Finger und Hände zu verdrehen, Blockierende mit dem Knie niederzudrücken oder mit der Hand auf dem Gesicht der Demonstrierenden die Köpfe nach hinten zu drücken.
Der Einsatzleiter und sein Stellvertreter mussten kontinuierlich Einfluss auf ihre Beamten nehmen: „Mensch, dass können wir auch besser! Sie tragen ab jetzt zu viert. Ich ermahne sie meine Befehle umzusetzen, wenn sie das nicht können, löse ich sie ab. Das werden wir auswerten.“

Ich möchte an dieser Stelle das Vorgehen und den Einsatz dieser Beamten loben, da sich danach die Räumung friedlicher gestaltete. Jedoch möchte ich feststellen, dass scheinbar die Kommunikation zwischen der Einsatzleitung und den ausführenden Mannschaften nicht hinreichend funktioniert. Ich hatte den Eindruck, dass mit einer gewissen Geschäftsmäßigkeit und ohne zu realisieren, dass man es hier nicht mit gewalttätigen Fußballfans zu tun hat, vorgegangen worden ist. Eine deutlichere Aufklärung der Einsatzkräfte scheint notwendig. In vergangenen Jahren sind die Konfliktmanager zu diesem Zweck zu den Einheiten gereist. Ein Polizist sagte mir, dass dies aus Kostengründen diesmal unterblieben war.

Die Erschöpfung der Einsatzkräfte wirkte sich deutlich auf ihr Verhalten aus. Die Strecke zwischen dem Aufnehmen der Demonstrierenden und dem Ort, an dem sie aus dem Bereich gebracht werden konnten, betrug am Ende circa 300 Meter. Polizei und Demonstrierende fragten sich, warum nicht seitlich abgetragen werden konnte. Das hätte sicher einige unschöne Szenen verhindert.
Ich habe einige Male, allerdings bei Bundes- und Landespolizeibeamten und auch -beamtinnen, einschreiten müssen, die zwar keine offensichtliche körperliche Gewalt ausübten, aber mit zotigen und verletzenden sexistischen Äußerungen vornehmlich Demonstrantinnen attackierten.

Viele der Beamte ließen sich von mir ansprechen und waren für aufmunternde Worte dankbar. Ich konnte mich die ganze Zeit frei bewegen. Wichtig ist, dass die Interventionen und Gespräche mit den Beamten in aller Regel etwas gebracht haben.



Stefan El Karsheh, Holger Kelbert, Helga Kramer
Was geschieht
Montag, 10. November; Gorleben, vor dem Zwischenlager; ab 9.00 Uhr
Ab 9.00 Uhr - in Erwartung einer kurzfristigen Räumung der Blockade – schließt sich Holger Kelbert wieder der Seelsorge- und Deeskalationsgruppe des Kirchenkreises Lüchow-Dannenberg an. Vor dem Zwischenlager versammeln sich im Lauf des Vormittags etwa 1.500 Demonstrierende. Durch zwei Laternenkletterer wird ein Banner vor dem Tor zum Zwischenlager entfaltet, ohne dass die Polizei einschreitet.

Ab 11.00 Uhr kommen im Abstand von ca. 20 Minuten Aufrufe der Polizei, die Blockade zu beenden - denen jedoch niemand folge leistet. Es folgen danach noch drei "Platzverweise" durch die Polizei - die jedoch auch ohne Wirkung bleiben.
Inzwischen haben die Demonstrierende auf Strohsäcken ihre Plätze eingenommen und damit die Zufahrt zum Zwischenlager blockiert. Am Vormittag wird die Straße und das gesamte Blockadegelände durch die Polizei mit "Hamburger Gittern" eingezäunt. Hierbei kommt es zu ersten Auseinandersetzungen von Demonstrierende mit der Polizei. Kleine Gruppe und Einzelpersonen versperren den Beamten den Weg beim Aufbau der Gitter. Zu nennenswerten Handgreiflichkeiten kommt es nicht.

Hinter den Gittern stehen cirka 200 Polizisten, auch einige mit Hunden. Etwa um 13.00 Uhr rückt nach einem letzten Aufruf von Süden her ein großes Polizeiaufgebot vor. Angesichts der unmittelbar bevorstehenden Räumung teilen wir PastorInnen uns in drei Gruppen auf: zwei gehen zu den Demonstranten, eine zum südlichen Ausgang: Manuela Janssen, Holger Kelbert, Helga und Simon Kramer, Johannes Link und Norbert Schwarz. Während Manuela Janssen, die Kramers und J. Link sich direkt am Ausgang postieren, bleibt Holger Kelbert cirka 20 Meter davor - mit viel Bewegungsspielraum nach vorn und nach hinten. Mehr in Richtung Demonstrierende postiert sich Norbert Schwarz, der auch zu Holger Kelbert Kontakt hält.

Die Räumung dauert von 13.00-16.53 Uhr. Sie verläuft in den meisten Fällen friedlich bis entspannt. Doch wenn sich (meist männliche) Demonstrierende wehren, gibt es einige gereizte Reaktionen bei der Polizei.

In etwa zehn Fällen hat Holger Kelbert eingegriffen:
1. Fußtritte durch einen Polizisten (mit mehreren Pastoren eingegriffen).
2. Ruppiges Schubsen eines Demonstrierenden am Ausgang (weise den betreffenden Polizisten auf sein Fehlverhalten hin).
3. Kontaktaufnahme-Versuch mit einem jungen Mann, dessen Personalien festgestellt werden sollen; werde durch einen schwarz gekleideten Polizisten daran gehindert und heftig zur Rede gestellt.
4. Schreie und Fußtritte eines getragenen Demonstrierenden: beruhige ihn.
5. Fassungsloser und frustrierter junger Mann: versuche ihn zu trösten und zu ermutigen.
6. Kreislaufkollaps eines jüngeren Mannes: Sanitäter versorgen ihn; kommt nach sechs Minuten wieder auf die Beine und wird vom Sanitäter zum Ausgang begleitet.
7. Mehrere nachlässige Transporte von Demonstrierenden: zu tief, rücksichtslos schleifen lassen ...
8. Zweimal wird der Kopf eines Demonstrierenden verdreht, dreimal ein Arm
9. Nach einem weiteren Eingreifen werde ich vom selben Polizisten wie in Punkt 3 barsch aufgefordert, die "polizeilichen Aktionen nicht zu behindern".
10. Einer der hinter mit stehenden Polizisten befragt mich nach meinen Aufgaben. Ich erkläre kurz die Arbeit der Deeskalationsteams der Kirchen; damit ist er zufrieden.
11. Nach einem kurzen Gang durch den Wald werde ich von einem Polizisten am Betreten des "Kessels" gehindert. Ich bestehe auf meinem Recht, den Platz zu betreten; er verlangt meinen Dienstausweis und lässt mich passieren.
Neben diesen schwierigen Begegnungen gab auch entspannende: zweimal wurde Holger Kelbert von tragenden Polizisten gefragt, ob sie ihre Sache denn gut machten. Sie bemühten sich offensichtlich, die Blockierenden schonend zu transportieren - und das hat er dann auch gewürdigt.

Unter dem Strich resümiert Holger Kelbert: „Ich empfinde meinen ersten Einsatz bei den Castortagen als sinnvoll und - was die Räumungsphase angeht - als sehr anstrengend. Gegenüber den tausend Demonstrierende vor dem Tor empfand ich zunehmende Wertschätzung und Dankbarkeit.“



Stefan Giesel
Gut, dass wir darüber geredet haben
Montag, 10. November; Gorleben, vor dem Zwischenlager; 9.00 - 17.00 Uhr
9.00 Uhr: Ankunft am Zwischenlager, viele Diakone und Pastoren mit weißer Weste sind zu sehen, ich bilde mit Hilma Keitel und Bernd Paul ein Team und wir gehen zum Ende der sitzenden Demonstrierenden Richtung Gorleben.
Stundenlang ist die Stimmung friedlich, wenig Polizei zeigt sich. Gegen 12.00 Uhr werden die Einsatzkräfte massiv verstärkt, die Sitzblockade wird eingekesselt. Niemand soll mehr rein (einer Demonstrantin gelingt es trotzdem, großes Gejohle), wir sind innerhalb.

Gegen 13.00 Uhr: Beginn der Auflösung und Wegtragen der Demonstrierenden am anderen Ende der Blockade direkt vor dem Tor zum Zwischenlager. Bei uns ist alles ruhig. Hilma Keitel geht zur Unterstützung vor das Tor, ich folge nach einer Weile, beobachte die Räumung.
Ich sehe zum Teil unverhältnismäßig hartes Vorgehen einiger Polizisten: Sie greifen ohne Vorwarnung von hinten ins Gesicht, in die Nase und auch Augen, verdrehen den Kopf. Geschieht das, erhebt sich lautes Geschrei der anderen Demonstrierenden. Ich werde von einer Demonstrantin freundlich, aber energisch aufgefordert, weiter nach vorne zu gehen und mit dafür zu sorgen, dass solche Übergriffe unterbleiben.

So bin ich mit anderen Seelsorgern plötzlich mittendrin im Getümmel: Die Polizei lässt mich gewähren, ich kann einige Aufforderungen auf einen maßvollen Umgang mit den Demonstrierenden bei den Polizisten anbringen, die Reaktionen reichen auch hier von einer gewissen Umsetzung meiner Aufforderungen bis hin zu Ablehnung und (einer) höhnischen Reaktion(en), Polizist: „Gut, dass wir drüber geredet haben!“
Der Einsatz geht weiter. Nach einer Weile macht mich eine Demonstrantin auf drei Angekettete unter dem Trecker mit der Aufschrift „Polente“ aufmerksam: Ich solle die Polizei darauf hinweisen, dass der Trecker wegen der drei Angeketteten nicht bewegt werden darf. Kurze Zeit später wird das auch vom Lautsprecherwagen der Demonstrierende durchgesagt.

Um cirka 16.30 Uhr ist die Straße von Demonstrierenden geräumt, nur zwei der Angeketteten sitzen noch unter dem Trecker. Bei der Befreiung der Angeketteten geht die Polizei sehr behutsam und professionell vor: Sie sorgt selbst für eine friedliche Stimmung, lässt sich Zeit mit der Befreiung. Als die schließlich geschafft ist, setzen sich die drei wieder auf die Straße mit dem Kommentar: „Wir sind nicht hergekommen, um hier wieder wegzugehen!“ Der Einsatzleiter vor Ort schaut zunächst ein wenig verduzt, winkt dann einige Polizisten heran, die drei werden (friedlich) weggetragen.
Der Einsatz vor dem Zwischenlager ist beendet. Ich gehe noch einmal auf der Straße in Richtung Gorleben und werde prompt von drei Polizisten aufgefordert, meinen Weg jenseits der Absperrung im Wald fortzusetzen, weil niemand als die Polizei sich jetzt mehr auf der Straße befinden dürfe. Auch der Hinweis auf meine Funktion hilft mir da nicht weiter und ich muss die Straße verlassen.

Persönliches Fazit: Unsere Gegenwart als Seelsorger sehe ich besonders bei dem Einsatz vor dem Zwischenlager als sehr sinnvoll an. Das gilt in erster Linie im Hinblick auf die Demonstrierenden: Zweimal bin ich von ihnen um Unterstützung ihrer Anliegen gebeten worden (Einschreiten gegen unverhältnismäßig rohen Einsatz einiger Polizisten, Hinweis auf die Angeketteten unter dem Trecker aus Sorge um diese).



Stefan El Karsheh, Jens Rohlfing, Stephan Wichert von Holten
Schwarz oder Grün – unangemessen oder angemessen
Montag, 10. November; Gorleben, vor dem Zwischenlager; ab 13.00 Uhr
Direkt bei den Einsatzkräften, die Demonstrierenden weggetragen haben, stehen Jens Rohlfing und Stefan El Karsheh und Stephan Wichert-von Holten.
Zum Einsatz kommen zwei „Züge“ von Beamten: Auf der linken Seite (zum Einfahrtstor des Lagers hin) sind es schwarzgekleidete Bundespolizisten auf der rechten Seite (zum Wald hin) sind es grüngekleidete Landespolizisten aus Niedersachsen.

Eine vorzeitige Räumung der „Tripots“ (Dreibeinständer aus Holzbalken) und der Planenkonstruktionen geschieht nicht. Der Abbau geschieht während des Wegtragens der Demonstrierenden. Die Beamten gehen behutsam vor, Ordner der Blockierer stehen bereit, die Konstruktionen zu sichern, damit nichts auf Sitzende fällt. Weitere Ordner reden beruhigend auf Demonstrierenden und Polizisten ein, bitten um Vorsicht beim Abbau und weisen auf die friedlichen Absichten der Demonstrierenden hin. Im Ganzen handelt die Polizei besonnen. Auch die Warnung vor einem ungebremsten Trecker, an den sich drei Demonstrierende mit Fahrradbügelschlössern gekettet haben, wird von den Einsatzkräften berücksichtig. Die Befreiung erfolgt mit der nötigen Behutsamkeit.

In direkter Nähe zu der Räumung befinden sich außer den Einsatzkräften nur noch Pressesprecher der Polizei. Konfliktmanager stehen außerhalb der Blockade. Alles wird von Polizeivideos festgehalten und zum Teil mit Kommentaren aufgenommen. Beispiel: „Demonstrant leistet Widerstand gegen Staatsgewalt. Tritte und Schreie. Maßnahmen gerechtfertigt.“

Wir stellen bei den beiden Einsatzzügen einen erheblichen Unterschied fest. Während die grüngekleidete Landespolizei ruhig auf die Demonstrierenden zugeht, mit ihnen spricht, sie fragt, ob sie weggetragen werden wollen oder ob sie selber gehen werden, geht die schwarzgekleidete Bundespolizei forscher vor. Unter zum Teil hämischen Kommentaren des „Einsatzleiters“ (er gibt vor, welche Personen nach welcher Reihenfolge wegzutragen seien) werden die Demonstrierenden schnell mit Zwangsgriffen zur Lösung aus Gruppen bewegt.

Ein den Zugriff leitender Beamte macht sinngemäß Aussagen wie: „Jaja, schreit mal nur.“ „Das habt ihr euch doch selber zuzuschreiben.“ „Ihr nehmt den Dicken da.“ „Lasst sie schreien. Das wollen sie doch so.“ Stefan El Karsheh beobachtet etwa dreißig bis vierzig Handhebel, etwa ähnliche viele Griffe ins Gesicht. Die Helme tragen die Beamten an der Hose, so dass es zwangsläufig zu Zusammenstößen kommt. Demonstrierende bekommen Helme an den Kopf oder an die Schulter.

Die Bundespolizisten lassen die Weggetragenen, nachdem sie aus der Gruppe gelöst sind, sich nicht noch einmal setzen, um in eine bessere Trageposition zu wechseln oder sich gar entscheiden zu können, selber zu gehen. Auch die Tragetechnik weist Mängel auf: Anfangs tragen nur zwei Beamte, ziehen Personen am Rucksack über die Straße oder ziehen sie an den Beinen. Wir sprechen den Leiter mehrfach auf die übertriebene Härte seines Vorgehens an, doch der verweist auf den Widerstand der Demonstrierenden, der diese Vorgehensweise rechtfertige. Stefan El Karsheh zeigt daraufhin zu seinen Kollegen von der Landespolizei auf der rechten Seite, die dieselbe Arbeit mit einem völlig anderen Resultat ausüben. Dort geht es deutlich ruhiger und unaufgeregter zu. Doch auch davon lässt er sich nicht beeindrucken und ermahnt seine Kollegen, in gleicher Weise fortzufahren und sich nicht beirren zu lassen.

Unser Eindruck: Dieser Beamtengruppe ist nicht deutlich, welchen Typ von Demonstrierenden sie vor sich haben. Ihnen fehlt die Perspektive für den Grund des Widerstandes. Nachdem Stephan Wichert-von Holten mit dem Hundertschaftsführer gesprochen hat, stellt sich eine Verbesserung in der Vorgehensweise der Bundesbeamten ein. Der restliche Verlauf der Räumung verläuft ohne nennenswerte Zwischenfälle. Wir konnten uns als Seelsorger frei bewegen, selbst wenn wir nur eine Armlänge von den Einsatzkräften entfernt standen.



Norbert Schwarz
Die Frau hat Abitur
Montag, 10. November; Gorleben, vor dem Zwischenlager; ab 13.00 Uhr
Als es mit dem Wegtragen der Leute durch die Polizei losging, blieben Stefan El Karsheh und Stephan Wichert-von Holten dort, wo die Leute hochgehoben wurden. Ich selber positionierte mich weiter hinten, innerhalb des abgesperrten Bereiches (zwischen blauem Lautsprecherwagen und den Hamburger Reitern, wo die Menschen „entlassen“ wurden). So konnte ich beobachten, wie die Leute weggetragen worden sind.

Überwiegend gingen die Beamtinnen und Beamten beim Wegtragen der Demonstrierenden ruhig und besonnen vor. Gelegentlich kam es zu „freundlichen Gesten“, etwa als ein Beamter einer Demonstrantin ihr Portemonnaie und Handy reichte, nachdem sie diese beim Wegtragen verloren hatte. Gelegentlich kam es allerdings auch zu unschönen Szenen.

Ein Beamter mit einer Videokamera hat das Wegtragen der Leute kontinuierlich gefilmt. Er stand etwa in Höhe des blauen Lautsprecherwagens. Nachdem die Beamtinnen und Beamten diesen Ort passiert hatten, setzten sie die Wegzutragenden ab in Verbindung mit der Aufforderung: „Wir sind jetzt an der Kamera vorbei. Sie können jetzt selbständig weitergehen. / Gehen sie bitte selbständig weiter. / Wollen Sie jetzt selber weitergehen?“ Manche der Demonstrierenden haben darauf reagiert und sind aufgestanden. Andere haben sich dem verweigert und wurden weiter getragen. In einigen Fällen wurden Beamte aggressiv, schrien Demonstrierende an („Steh jetzt sofort auf und geh!“). In einigen Fällen sind Demonstrierende, nachdem sie an den Beinen gefasst worden sind, mit dem Rücken auf der Straße liegend weggeschleift worden.

Einige Polizisten konnte ich dabei beobachten, wie sie Schmerzgriffe anwendeten, um Demonstrierende zum Gehen zu zwingen (Daumen oder Handgelenk nach hinten knicken). In einigen Fällen wurden solche Schmerzgriffe auch bei Demonstrierenden angewandt, die schon selbständig gegangen sind. Wo ich dies gesehen habe, bin ich auf die Polizisten zugegangen und habe sie darauf angesprochen, dass diese Art des Zugriffes nicht verhältnismäßig ist.

Auffällig war eine Gruppe von männlichen Beamten der Bundespolizei durch ihr hartes Vorgehen und abwehrende Kommentare auf meine Intervention hin: Um 14.17 Uhr konnte ich beobachten, wie zwei Beamte der Bundespolizei ein Mädchen, dass offensichtlich noch minderjährig war, an den Beinen gefasst und weggeschleift haben. Der Oberkörper des Mädchens wurde mit dem Rücken zum Boden auf dem Asphalt entlanggeschleift und das über die ganze Strecke (mehr als 100 Meter) bis zum Ende des abgesperrten Bereiches. Als ich die Beamten gebeten habe, die Demonstrantin nicht in dieser Weise wegzuschleifen, fuhr mich einer der Beamten an: „Verschwinde!“

Aus einer Gruppe von männlichen Bundespolizisten sind mir mehrere Kommentare zu Ohren gekommen, die sie aus der Zweierreihe heraus ihren Demonstrierende tragenden oder wegschleifenden Kollegen zugerufen haben. Kommentare sexistischen Inhaltes: „Vorsicht! Die Frau hat Abitur!“ Gegenstand von laut geäußerten sexistischen Kommentaren und Gelächter (aus der besagten Gruppe heraus) wurde auch die Unterwäsche einer Demonstrantin, die durch das Schleifen über den Boden aufgedeckt worden ist.

Ich habe diese Vorfälle zum Anlass genommen, mich an einen der vor dem Zwischenlager anwesenden Konfliktmanager der Polizei zu wenden und ihn zu bitten, auf die Einsatzleitung hinzuwirken, dass derartig übergriffige Verhaltensweisen unterbleiben.

Nachdem die Straße vollständig geräumt worden war, blickte ich auf den mit Stroh übersäten, leeren Asphalt – wo am Abend zuvor hunderte von Menschen in ihren Schlafsäcken lagen. Zusammen mit den anderen „Weißen“ passierte ich die Polizeiabsperrung, vorbei an einer Gruppe von Demonstrierenden. „Gut, dass ihr da ward!“ – rief einer von denen zu uns herüber. Mit dieser Stimme im Ohr ging ich zurück zu meinem Wagen, stieg ein und fuhr Richtung Gedelitz nach Hause.



Simon Kramer
Sexuelle Belästigung
Montag, 10. November; Gorleben, vor dem Zwischenlager; 15.00 - 15.45 Uhr
Beim Wegtragen der Demonstrierenden aus der zweitägigen Sitzblockade beobachte ich, wie eine Frau von drei Bundespolizisten begleitet wird. Sie geht selbst, zwei gehen rechts beziehungsweise links neben ihr. Der dritte geht hinter ihr und trägt ihren Rucksack. Dieser Polizist greift ihr während des Gehens mehrfach an den Hintern. Eindeutig nicht, um sie auf angemessene Weise zu schnellerem Gehen zu bewegen, sondern seine „Macht“ - Position ungebührlich ausnutzend.

Zwei noch sehr junge Sanitäter sehen das Geschehen ebenfalls. Mit einem von ihnen bespreche ich, was zu tun ist. Wir gehen der Gruppe hinterher und treffen die Frau außerhalb der von der Polizei gesperrten Zone. Sie bestätigt uns die Belästigung und äußert ihren Wunsch, eine Anzeige gegen den Polizisten zu erstatten. Wir helfen ihr, eine Polizistin zu finden, die unsere Aussagen aufnimmt. Auch der zweite Sanitäter wird dazugeholt, so dass insgesamt drei Augenzeugen einzeln befragt werden. Der Vorgang selbst ist dabei unstrittig, jedoch differiert die Angabe, welcher der drei Polizisten der Täter war. Wir gehen mit der aufnehmenden Beamtin wieder in die abgesperrte Zone vor dem Zwischenlager, wo sie uns bittet, den Täter zu identifizieren. Dabei stimme ich mit dem einen Sanitäter überein, dass es „der mit dem Schnauzer“ war. Der andere Sanitäter ist überzeugt, dass es einer der beiden anderen war.

Die geschädigte Frau wird von der Polizistin darüber aufgeklärt, dass die gesammelten Daten bei der Polizei hinterlegt werden und sie nun zu ihrer örtlichen Polizeidienststelle gehen müsse, um die Anzeige zu erstatten. Sie bedankt sich bei mir mit der Feststellung: „Ich wusste gar nicht, dass ihr so was auch tut.“



Manuela Janssen, Helga Kramer, Johannes Link
Treten Sie nicht auf unsere Helme!
Montag, 10. November; Gorleben, vor dem Zwischenlager auf der Straßenseite gegenüber der Einfahrt; etwa 15.30 – 15.40 Uhr
Helga Kramer befand sich auf der linken Seite der Schneise, wo die von den Polizisten aus der Sitzblockade weggetragenen Menschen abgesetzt wurden; Manuela Janssen und Johannes Link befanden sich auf der gegenüberliegenden Seite (rechts).

Eine junge Frau wurde cirka 15.30 Uhr in die Nähe von Helga Kramer gebracht. Ein Polizist warf ihr vor, sie hätte ihn angespuckt. Er wollte ihre Personalien aufnehmen und kündigte an, sie werde in Gewahrsam genommen. Er rief Kollegen zu Hilfe. Diese brachten die Frau hinter das Absperrgitter auf der linken Seite der Schneise, vor das Heck des gelben Kleinbusses, der dort stand. Johannes Link und Helga Kramer gingen mit. Es wurde verabredetet, dass Frau Kramer bei der Frau blieb; Johannes Link ging wieder zurück.

Zwei Polizisten hielten die Frau an den Armen fest, eine Polizistin forderte die Frau auf, den Personalausweis herauszugeben. Der Polizist, der den Vorwurf gegen die Frau erhoben hatte, war anwesend, aber hielt die Frau nicht mit fest. Die junge Demonstrantin blieb sehr ruhig. Sie antwortete, dass sie den Ausweis herausgeben würde, wenn sie eine Hand frei hätte. Die Polizistin: „Sagen Sie mir, wo sie den Ausweis haben, dann können wir uns die Durchsuchung sparen.“

Frau Kramer kündigte an, dass sie bei der Frau bleiben werde. Die Polizisten wirkten nervös und gereizt und zogen die Frau weiter, an die Seite des Kleinbusses. Die Frau leistete keinen Widerstand. Frau Kramer ging mit und machte die Polizisten darauf aufmerksam, dass diese die Frau unverhältnismäßig gewaltsam behandelten und sie bitte weniger Gewalt aufwenden möchten.

Ein Polizist forderte Frau Kramer daraufhin auf, sie solle ihre Aufgabe tun, den Konflikt entschärfen und der Frau sagen, sie solle ihren Ausweis hergeben. Dies tat sie nicht, sondern blieb stehen. Eine Polizistin drängte sie dann weg, mit den Händen an ihren Schultern. Die zurückbleibenden Kollegen riefen hinterher: „Seht zu, dass die nicht mehr hierher kommt.“ Die Polizistin schob sie am gelben Kleinbus vorbei, zwischen und über dort liegende Polizeihelme, und machte sie dabei darauf aufmerksam, dass sie bitte auf das teure Einsatzmaterial acht geben möge. Sie brachte Frau Kramer bis zum Anfang der Schneise.



Eckhard Kruse, Theda Kruse
Räumung der Bäume
Montag, 10. November; Gorleben, in der Nähe des Tores zur Pilotkonditionierungsanlage; ab 7.30 Uhr
Um 7.30 Uhr finden wir uns am Zwischenlager ein.
Es herrscht insgesamt eine sehr entspannte und friedliche Stimmung vor dem Tor des Zwischenlagers, wo „x-tausend-mal-quer“ seit Samstag ein Sitzblockade organisiert. Wenige Meter vor dem Tor der Pilotkonditionierungsanlage befinden sich sechs Robin-Wood-Aktivisten in den Bäumen (je drei rechts und links der Straße). Dort „wohnen“ und klettern sie in cirka sechs bis acht Metern Höhe bereits seit Samstag. Drei feste Seile sind über die Straße gespannt, an denen ein großes Transparent („Umsatteln! Ökostrom statt Kohle und Atom!“) befestigt ist.

Nach Absprache mit unseren Kollegen, die vor dem Tor zum Zwischenlager in ausreichender Anzahl präsent sind, verständigen wir uns, dass wir die Aktion von Robin Wood in der Nähe des Tores der Pilotkonditionierungsanlage im Auge behalten. Zwei Rechtsanwälte und vier Demonstrierende sind ebenfalls dort. Wir vereinbaren mit ihnen, uns bei der späteren Räumung auf jede Straßenseite gleichmäßig aufzuteilen (je ein Anwalt und ein Seelsorger / eine Seelsorgerin).
Eine Polizeieinheit aus Eutin ist für diesen Abschnitt zuständig. Bis zum frühen Nachmittag ist alles ruhig. Wie beobachten, wie die Polizeigitter (mit „Unterstützung der Clownsarmee“) aufgestellt werden.

Der Einsatzleiter ist sehr moderat und sichert uns zu, dass es die Räumung der sechs Personen von den Bäumen ruhig und bedachtsam geschehen werde. Sie würden zunächst ärztlich versorgt werden. Ob sie anschließend in Gewahrsam genommen werden oder nicht habe er allerdings nicht zu entscheiden.
Um 16.00 Uhr rückt wie aus dem Nichts ein schwarz gekleideter Polizeitrupp an, der unvermittelt damit beginnt, die mittlerweile auf cirka 100 Personen angewachsene Zahl demonstrierender Menschen rechts und links der Straße in den Wald zu drücken. Es gab weder eine Aufforderung noch eine höfliche Bitte, das Gelände zu verlassen.

Nachdem es uns gelungen war, den verantwortlichen Einsatzleiter dieser Einheit, Herrn Kreft, auszumachen und uns ihm vorgestellt hatten, entgegnete dieser „Ich bin ein Ungläubiger!“ und verlangte unsere Dienstausweise. Ein Polizeiseelsorger versuchte vergeblich ihm zu sagen, wir seien ihm bekannt und im Dienst. Es kommt zu aus unserer Sicht völlig unverhältnismäßigen Übergriffen. Wortlos wurden die Menschen in den Wald zurückgedrängt. Einige fielen hin, und bevor sie aufstehen konnten, wurden sie weiter in den Wald geschleift. Pastorenehepaar Mahlke berichtet zu dieser Situation, „dass ein Polizist eine Frau, die hinter dem Absperrgitter saß, an den Schultern gepackt und wie eine Puppe in den Wald geworfen hat. Ein anderer hat die Frau an den Beinen gepackt und weitergeschleift.“

Als eine Demonstrantin schreit: „Fassen Sie mich nicht an“, gehe ich sofort dorthin und erinnere den Polizisten ruhig und zugleich entschieden an seine Pflicht, die Verhältnismäßigkeit zu wahren. Außerdem habe er sein Ziel erreicht, das Gebiet um den Baum herum von Menschen zu befreien. Auch ich werde von ihm Richtung Wald gedrängt. Ich berufe mich auf meine Rolle als Seelsorgerin, woraufhin er meinen Dienstausweis verlangt. Daraufhin lässt er von mir ab und beschränkt sich darauf, niemanden mehr in die Nähe des Baumes der Robin-Wood-Aktivisten zu lassen.

Die Räumung der Bäume geschieht - wie zugesagt - sehr moderat durch Spezialisten einer zur Höhenrettung ausgebildeten Polizeieinheit. Einer der Rechtsanwälte hat durch Verhandlungen bewirkt, dass die sechs jungen Menschen lediglich einen Platzverweis bekommen haben, mit der Auflage, direkt in ihr Camp in Gorleben zu gehen. Wenn sie dem nicht nachkämen, würden sie in Gewahrsam genommen werden. Daraufhin begeben sie sich auf den Weg zu Fuß durch den Wald Richtung Gorleben.



Eckhard Kruse, Theda Kruse
Gorleben ist Sperrgebiet
Montag, 10. November; Gorleben; gegen 17.00 Uhr
Wir fahren nach Gorleben, stellen unser Auto an der Kapelle ab und gehen zu Fuß - in Begleitung von einer Rechtsanwältin und zwei weiteren Personen - Richtung Infopunkt am Ortsausgang. Mit Hilfe unserer Ausweise und nach aufwändigen Verhandlungen mit einer Einheit aus Nordrhein-Westfalen, die die Hauptstraße in Gorleben als absolutes Sperrgebiet deklarieren, passieren wir eine Polizeisperre.

An der nächsten Straßensperre werden wir nicht durch gelassen. Wir beobachten, wie eine Gruppe von Demonstrierenden mit Rucksäcken aufgehalten und daran gehindert wird, die Straße zu überqueren. Bald erkennen wir in ihnen die Robin-Wood-Aktivisten, die vor kurzem nach Beendigung ihrer Kletteraktion mit einem Platzverweis versehen worden sind. Auf unsere Bitte hin werden wir zu der Gruppe gelassen. Wir fragen sie nach ihrem Ziel. Sie nennen ein Haus auf der anderen Straßenseite in der Nähe des Ortsausgangs. Sie wollen sich dorthin zurückziehen und sich wegen des gegen Sie ausgesprochenen Platzverweises nicht unter freiem Himmel versammeln.

Wir bieten Ihnen an, sie auf einer Parallelstraße zur Hauptstraße zum „Infopunkt“ zu begleiten, um sie dort über die Straße zu geleiten. Sie nehmen unser Angebot dankend an. Am „Infopunkt“ angekommen, nehmen wir Kontakt zum Einsatzleiter dieses Abschnitts auf. Die Straße sei absolutes Sperrgebiet. (Zu diesem Zeitpunkt war die Räumung der Grippeler Blockade längst nicht abgeschlossen).
Das irrwitzige an dieser Situation war: Die jungen Leute hatten einen Platzverweis erhalten mit der Maßgabe, direkt in ihr Quartier zu gehen. Genau dorthin wurde ihnen aber nun der Zugang verweigert, weil die Hauptstraße in Gorleben ein Sperrgebiet sein soll. Wir wiesen den Polizisten die Widersprüchlichkeit dieser Situation. Der Einsatzleiter für diesen Abschnitt war wegen unserer Rolle als Seelsorger irritiert. Wir beriefen uns auf die Einsatzleitlinien der Polizei, in denen unser kirchlicher Auftrag erwähnt wird und die Definition des Versammlungsverbotes geregelt ist. ‚Kenn ich nicht, gibt es nicht’, das war seine Haltung. Erst als wir eine Rechtsanwältin dazuholen wollen, lenkt der Polizist ein und gestattet uns, die Gruppe der sechs jungen, völlig erschöpften Menschen nur unter seiner persönlichen Polizeibegleitung zu ihrem Quartier auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu geleiten. Die Robin-Wood-Aktivisten bedankten sich sehr herzlich bei uns.



Michael Gierow, Gerd Krumrey, Michael Ketzenberg
Der Süden grüßt den Norden
Montag, 10. November; Grippel; 11.30 bis 22.30 Uhr
Von der Bäuerlichen Notgemeinschaft wurden wir gebeten, nach Grippel zu kommen, da einige Mitglieder in Betonpyramiden angekettet sind und bei dieser Aktion gerne Seelsorger dabei haben würden.
Wir treffen viele Bekannte aus Breselenz, Jameln und Umgebung. Die beiden Betonpyramiden, raffinierte Konstruktionen, stehen mitten auf der Straße, jeweils vier Personen haben einen Arm in der Pyramide versenkt und sind dort angeschlossen.

Polizeieinheiten aus Bayern und Baden-Württemberg rücken an, auch Konfliktmanager der Polizei, unter anderem sind Herr Pocher und Herr Grieschke zugegen. Wir stellen uns dem Einsatzleiter, Herrn Müller aus Bayern, vor, ebenso dem röm.-kath. Polizeiseelsorger Diakon Zenk, ebenfalls aus Bayern sowie seinem evangelischen Kollegen Pastor Seeliger aus Hamburg.

Cirka 50 Personen sitzen neben den Pyramiden auch noch auf der Straße. Die Ansprechpartner der Bäuerlichen Notgemeinschaft haben Kontakt mit der Polizei aufgenommen. Verschiedene Absprachen werden getroffen. Anwälte des „Republikanischen Anwaltsvereins“ (Freie Republik Wendland) sind zugegen. Es wird vereinbart, dass diejenigen, die nicht angekettet sind, nach der zweiten Aufforderung die Straße verlassen. Die Bäuerliche Notgemeinschaft kümmert sich mit darum.

Es folgt die Ankündigung, dass die Versammlung aufgelöst ist und dann: „Wir bitten alle, die Straße jetzt zu verlassen. Die Angeketteten dürfen noch sitzen bleiben.“ Genau das passiert auch schnell und problemlos. Dann die erste Ansage von Herrn Müller an die Angeketteten über Lautsprecher: „Hallo, liebe Leute, hier spricht Eure Polizei. Der Süden grüßt den Norden. Wir haben hier Württemberger Einheiten und Bayern. Wir wollen gemeinsam diese Aktion jetzt weiterführen. Es ist alles mit den Betreuern abgesprochen…“

Betreuer, Rettungsdienst und Seelsorger dürfen bei den Angeketteten bleiben. Zwischendurch reichen Polizeibeamte Kaffee und Kekse an die Angeketteten weiter. Immer wieder Ansagen: Falls etwas gebraucht wird, muss es nur gesagt werden, und die Polizei würde dann dafür sorgen, dass es da ist.
Dann beginnt eine lange Befreiungsaktion mit etlichen Technischen Geräten und zwei Teams vom technischen Zug. Insgesamt wird dies noch bis nach 22.00 Uhr dauern, was aber jetzt noch keiner ahnt.

Zwischendurch die Ansage „Wir gehen dann miteinander nach Hause“. An der Straße unterhalten sich Polizeibeamte mit Kindern und Jugendlichen. Die Situation ist sehr entspannt. Die Polizei achtet darauf, dass niemand bei der Befreiungsaktion gefährdet oder verletzt wird. Strahler, nicht nur für Licht, sondern auch für Wärme (laut Aussage des Hundertschaftsführers) werden zusätzlich aufgestellt.

Die Mitglieder der Bäuerlichen Notgemeinschaft zeigen sich ebenso kooperativ. Erst um 18.35 Uhr ist dann die erste Person befreit. Sie und alle weiteren Befreiten werden zunächst dem polizeilichen Rettungsdienst und darauf dem DRK übergeben. Es erfolgen weder Festnahme noch Anzeige. Personalien werden ebenfalls nicht aufgenommen. Dies geht bei allen befreiten Aktivisten so. Begleitet mit solchen Ansagen: „So, Leute. Der Nächste ist jetzt befreit worden und wird ärztlicher Hilfe übergeben. Wir hoffen, dass es ihm bald wieder gut geht und wünschen ihm alles Gute.“ Zwischendurch spricht Herr Müller immer wieder mit den Angeketteten freundlich, geht jeweils auf die Knie und erkundigt sich nach dem Befinden.

Da mittlerweile klar ist, dass beide Seiten sich an Absprachen halten und das nicht ausnutzen, dürfen auch Ehefrauen oder Freunde jeweils für einige Zeit zu den Angeketteten.
Gegen 18.45 Uhr erscheint Landrat Jürgen Schulz. Konfliktmanager Pocher teilt gegen 19.00 Uhr mit, dass der Einsatzleiter einige Einsatzkräfte ablösen lassen wird, er selber aber wolle bis zum Schluss bleiben, es sei denn, er würde abberufen.

Als die erste der beiden Frauen befreit wird, hören wir folgende Ansage: „Die Christine fragt nach ihrem Thomas. Wo ist denn der Thomas? Thomas, komm doch mal hier herein zu deiner Christine, geh mit ihr dann mal zur ärztlichen Betreuung.“ Bei jeder Befreiung laute Jubelrufe aus dem Publikum, es gibt Feuerwerksraketen. Es macht viel aus, dass der Einsatzleiter seine Ansagen per Funkmikrofon zwischen den Pyramiden stehend oder im Augenkontakt mit den immer zahlreicher werdenden Zuschauern rechts und links der Straße macht.

Bei den Angeketteten, die nach vielen Stunden von der Bäuerlichen Notgemeinschaft losgekettet werden, bevor die Polizei sie befreien kann, gibt es keine hämischen Ansagen wie „Die haben aufgegeben…“, sondern der Einsatzleiter stellt wie bei den anderen fest: „Die soundsovielte Person wurde befreit…“ Die Bäuerliche Notgemeinschaft ist fröhlich und entspannt.
Erst gegen 21.12 Uhr ist die erste Pyramide vollständig abgeräumt, obwohl inzwischen noch eine dritte technische Einheit am Werke ist. Polizisten und Mitglieder der Bäuerlichen Notgemeinschaft fangen an, mit Schubkarre und Besen die Straße zu säubern. Das geschieht auch gegen 22.15 Uhr, nachdem die zweite Pyramide abgeräumt wurde.

Es gab in Grippel zwei getrennt voneinander zu sehende Aktionen. Wenn auch zwischendurch an der anderen Stelle in Grippel aggressivere Demonstrierende ein paar Mal versucht haben, sich auf die Straße zu setzen und dann von einer Bundespolizeieinheit entsprechend auch weggetragen wurden (hier waren wir teilweise als Beobachter zugegen), stand für die Bäuerliche Notgemeinschaft fest, dass dieses nichts mit ihrer Aktion zu tun hatte. Diese durchweg friedliche und entspannte Atmosphäre war auf beiden Seiten die ganze Zeit über zu spüren. Am Ende verabschieden sich Einsatzleiter, Sprecher der Notgemeinschaft und Seelsorger freundlich mit Handschlag. Wir wünschen uns, dass sowohl Widerstand als auch Polizei sich möglichst immer von dieser Seite zeigen.



Peter Kritzokat, Henning Schulze-Drude
Der Transport war längst schon durch
Montag, 10. November; Laase; ab 10.55 Uhr
Wir (Peter Kritzokat, Thomas Wollrath und Henning Schulze-Drude) kommen in Laase an und gehen zur Straße. Mit Hilfe unserer weißen Westen und einem Dienstausweis werden wir von der hier eingesetzten Erfurter Polizeieinheit durchgelassen.

Wir treffen an der Strecke Pfarrer Kunert, Polizeiseelsorger aus Hamburg. Er stellt uns dem Hamburger Einsatzleiter, Herrn Dudde, vor. Die Lage ist hier völlig ruhig. Die Hamburger Polizei hat drei Wasserwerfer und mehrere Fahrzeuge in Richtung des Rapsfeldes nach Richtung Gorleben rechts von der Fahrbahn gestellt. Hinter dem Feld steht ein Lautsprecherwagen der Demonstrierenden. Die 50-Meter-Zohne hat die Polizei mit Trassierband abgesperrt.

Wir verbringen die kommenden Stunden damit, mit allen Beteiligten zu reden, gehen zweimal zurück zum Musenpalast und stärken uns dort. Am Abend bringt Peter Kritzokat Thomas Wollrath zurück nach Dannenberg und kommt gegen 21.15 Uhr mit Stefan Giesel zurück nach Laase.
21.30 Uhr: Wir gehen wieder zur Straße. Die Erfurter Einheit ist inzwischen von einer Polizeieinheit aus Dachau abgelöst worden. Wir müssen uns neu ausweisen, es wird über Funk Rückfrage gehalten, ob sie uns durchlassen dürfen. Wir gehen dann zum Dachauer Einsatzleiter, Herrn Barthonik, und stellen uns ihm vor. Die an der Straße Richtung Feld eingesetzte Hamburger Einheit ist weiterhin hier.

21.50 Uhr: Wir sind einmal an der Transportstrecke langgegangen. Jetzt kommt Bewegung in die beiden Gruppen. Am Ende des Feldes sieht man immer mehr Demonstrierende. Die gesamte Polizeieinheit hat sich inzwischen mit aufgesetztem Helm an die Absperrung begeben.

22.10 Uhr: Demonstrierende kommen über das Feld in Richtung Straße. Vorweg Gruppen von insgesamt ca. 200 Personen, dahinter, am Rande des Feldes, mehrere Hundert Demonstrierende. Die Polizei fordert die Demonstrierenden auf, sich nicht weiter der 50-Meter-Markierung zu nähern. Sollten sie dieser Aufforderung nicht nachkommen, würde ohne weitere Vorwarnung der Wasserwerfer eingesetzt. Es kommt daraufhin immer wieder zum Einsatz der Wasserwerfer, um die Demonstrierenden noch vor Erreichen der 50-Meter-Markierung zurückzudrängen. Um 22.16 Uhr wird von der Polizei auch der Einsatz des Schlagstocks angedroht, falls die Demonstrierenden näher kommen würden. Ich melde mich in unserer kirchlichen Einsatzstelle und bitte darum, dass sich ein weiteres Seelsorgeteam für den Fall bereitmacht, dass die Demonstrierenden auf die Straße gelangen. Jetzt steigen auch mehrere Feuerwerksraketen in den Himmel auf, ohne jemanden gefährden zu können.

22.21 Uhr: Etwa 40 Meter vor dem Wasserwerfer 3 wird ein kleines Feuer in einem Graben entzündet. Auch im Hintergrund auf dem Feld brennen inzwischen mehrere größere Feuer. Eine Gruppe der Polizei geht zu dem kleineren Feuer, löscht es ab und zieht sich sofort wieder hinter die Absperrung zurück.
22.50 Uhr: Die Konfliktparteien stehen sich weiterhin auf Abstand gegenüber, die drei Feuer im Hintergrund brennen immer noch. Durch den Wind, der genau in die Richtung der Polizeikräfte steht, bereitet der Rauch den Polizeibeamten große Schwierigkeiten. Die Augen brennen und Trinkwasser wird zur Linderung geholt.

23.10 Uhr: Wieder ist ein kleineres Feuer vor dem Wasserwerfer 3 entzündet worden, und wieder gehen Polizeibeamte hin und löschen das Feuer. Der Lautsprecherwagen der Demonstrierenden fordert den Einsatzleiter auf „ihre Greiftruppen“ zurückzuziehen, die Menschen befänden sich alle außerhalb der 50-Meter-Zone. Die Polizei würde Landesfriedensbruch begehen. Die Polizeikräfte ziehen sich, nachdem das Feuer gelöscht ist, langsam wieder hinter die 50-Meter-Markierung zurück.

23.20 Uhr: Der Demo-Lautsprecher gibt bekannt, dass der Transport vor fünf Minuten losgefahren ist. Diese Meldung wird mit einem kleinen Feuerwerk quittiert. Die Besatzungen der Wasserwerfer wechseln die Düsen an den Wasserspritzen aus.
23.35 Uhr: Einige Personen nähern sich dem Wasserwerfer 4. Sie werden sofort angesprochen, danach wird wiederum Wasser gegen sie eingesetzt.

Eberhard Malitius und Bernd Paul kommen mit den weißen Seelsorgewesten über das Feld und werden am Wasserwerfer von den Polizeikräften durchgelassen.
Ein Hubschrauber kreist nun über uns und leuchtet mit einem starken Scheinwerfer das Umfeld aus. Durch den Qualm der brennenden Feuer sieht die ganze Szenerie gespenstisch aus. Auch der Scheinwerfer kann nicht viel ausrichten.

00.00 Uhr: Wir haben uns hinter den in Richtung Elbe liegenden Deich begeben, um uns vor den Castorbehältern zu schützen, die gerade an uns vorbeigefahren sind. Unsere Einsatzstelle hatte uns per SMS gebeten, vor allem vor den letzten drei Castoren einen besonderen Sicherheitsabstand einzuhalten. - Die Wasserwerfer sind vereinzelt weiterhin im Einsatz, die Menschen hatten keine Möglichkeit mehr, auf die Straße zu kommen. Mit einem Pfeifkonzert verleihen sie ihrer Enttäuschung über diesen Transport und die dazu gehörende Atompolitik Ausdruck.

00.05 Uhr: Der Transport ist vorbeigezogen. Am Ende der Fahrzeuge hält eine Hundertschaft der Bundespolizei an. Die Beamten steigen aus den Fahrzeugen und legen schwere Schutzkleidung an. Dann laufen sie, etwa 100 Polizeibeamte, über das Feld in Richtung des Lautsprecherwagens der Demonstrierenden. Durch dessen Lautsprecher wird durchgesagt, die Polizei solle aufhören, die Menschen zu jagen. Diese befänden sich alle weit außerhalb der Verbotszone. Genauso ist es.

00.10 Uhr: Eberhard Malitius und Henning Schulze-Drude wenden sich an den Einsatzleiter, Herrn Dubbe, mit der Frage, was dieser Einsatz denn nun noch solle, nachdem der Transport schon durch sei. Nach unserer Ansicht sei dieser Einsatz nicht nur völlig überflüssig, sondern sogar rechtswidrig. Die Menschen hielten sich schließlich alle weit außerhalb der Demonstrationsverbotszone auf. Herr Dubbe erklärt uns, dass er erst einmal den Hundertschaftsführer fragen muss. Er könne die Frage so nicht beantworten. Auf die Nachfrage von Schulze-Drude, ob er denn über diese Aktion nicht informiert wäre, entgegnet er, dass er das nicht wüsste. Sie fahren hier „Auftragstaktik“. Er hätte vor einiger Zeit Hilfe angefordert. Diese Einsatzkräfte handelten aber selbstständig und nach eigenem Ermessen.

Fazit: Den ganzen Tag über haben wir in Laase nur friedfertige Demonstrierende beobachtet. Für uns ist es daher völlig unverständlich, warum unmittelbar nach dem Transport Beamte der Bundespolizei deutlich außerhalb des Demonstrationsverbotszone Menschen gejagt haben und warum der Einsatzleiter vor Ort über deren Einsatz offenbar nicht informiert war. Diese Fragen bedürfen noch einer Klärung.



Hans Joachim Schliep, Umweltberauftragter der Landeskirche Hannovers
Zusammenfassung eines Erstbeobachters
1. Der Umgang der Polizei mit der kleinen Sitzblockadetruppe (acht Personen) auf der Straße nach Gorleben beim Aufstellen der ,Hamburger Gitter' war ganz und gar angemessen, das Wegtragen verlief einwandfrei (mit den notwendigen Fragen vorher, zurückhaltender Behandlung, Wiederhereinlassen in den inzwischen abgesperrten Raum).

2. Interveniert habe ich bei einem Polizeibeamten (grün), der im Wald neben der Straße weiter in Richtung Zwischenlager eine Polizistenkette bildete, wobei andere Polizisten mit bellenden Hunden etwas weiter davor standen. Meine Frage, ob man nicht die scharf bellenden Hunde abziehen könne, da sie Angst machen und unnötige Aggressionen schüren könnten, wurde beantwortet, man wolle das nun fast ganz abgesperrte Gelände gegen "Rückkehrer" auf die Blockadefläche schützen (was nicht ganz gelang) und die Menschen im Wald hätten das Hundebellen selbst provoziert. Ich habe dann darum gebeten, man solle statt der Hunde mehr Polizisten (die man nicht zu haben vorgab) als Kette hinstellen oder weitere Gitter, Letzteres geschah dann. Der Polizist bedeutete mir aber unbarsch, ich solle hinter der Linie, die die Polizistenkette bildete, zurücktreten, die ich aber gar nicht betraten hatte (war ein fußbreit dahinter), man würde mich sonst nicht mehr in die "abgesperrte" Zone lassen. Ich verwies auf die Erlaubnis, überall Zutritt zu haben, was von dem Polizisten vehement verneint wurde. Als ich sah, dass Gitter herangeschafft (aber die Hunde dennoch nicht Weggeführt wurden), bin ich mit der Bemerkung an den Polizisten gegangen, er sei mit seiner nicht auf dem aktuellen Stand und solle sich bei seiner Einsatzleitung noch einmal erkundigen nach dem, was dem Seelsorgerteam zugebilligt ist, zumal ein Gespräch mit anderen an anderer Stelle postierten Polizisten bezüglich der Rückkehr (sie hatte Wasser für eine Blockiererin aus ihrem Pkw geholt) von Ulrike Müller-Lange sofort ein bereitwilliges Zurückkehren auf das blockierte Straßengebiet zur Folge hatte.

3. Unser kleines Team hat beim Wegtragen mehrmals mit Worten intervenieren müssen, als einige Polizisten (schwarz) Menschen, die sie wegtragen wollten, nicht nur unerlaubt, sondern aus unserer Sicht völlig unnötig ins Gesicht griffen. Darüber geriet ich mit einem Polizisten (schwarz), der die "Eingriffgruppe" begleitete in einen kurzen Meinungsstreit, der - völlig unnötig, weil ich zwar nicht unweit von, aber überhaupt nicht unmittelbar in der Aktion war - mich vor Behinderung einer polizeilichen Maßnahme meinte warnen zu müssen. Ich habe ihm geantwortet, dass ich erwartet hätte, dass er seinen Kollegen zu angemessener und erlaubter Umgangsweise von sich aus aufgefordert hätte.
Das Verhalten der Blockierenden war, soweit ich es beobachten konnte, ohne jede Einschränkung gewaltfrei und deeskalierend - bewundernswert. Das der Polizei - mit den oben genannten wenigen, aber doch auch nicht hinnehmbaren (siehe 3.) Ausnahmen - ebenfalls. Im Blick auf die Bundespolizei müsste allerdings mit der Polizeiführung noch einmal intensiv gesprochen werden.



Anlagen
LESERBRIEF zu den anstehenden Schülerdemos
(erschienen am Freitag, dem 7. November 2008, in der Elbe-Jeetzel-Zeitung)

Evangelische Jugend
steht für Menschenwürde und Gewaltfreiheit
Wir sind als Jugendliche und Junge Erwachsene Vorstandsmitglieder des Jugendkonvents der Evangelischen Jugend Lüchow-Dannenberg. Zu unserem kirchlichen Jugendverband gehören z. Zt. ca. 400 Jugendliche aus dem Kirchenkreis.

Etliche, die zur Ev. Jugend gehören, werden in den kommenden Tagen aktiv bei unterschiedlichsten Widerstands-Aktionen, vor allem auch bei den Schülerdemos, dabei sein. Wir freuen uns, dass so viele Jugendliche deutlich machen wollen, dass mit uns im Wendland gesprochen und nicht über unsere Köpfe hinweg gehandelt werden soll. Wir wollen, dass die Endlagerfrage geklärt wird, bevor Gorleben einfach so und klammheimlich zum Endlager wird. Darum gehen auch wir auf die Straße! Es ist für uns. Und für alle, die mit uns leben.

Bei alledem sind wir uns als Angehörige der Ev. Jugend einig: Wir stehen dabei für Gewaltfreiheit und Menschenwürde. Das bedeutet für uns zuallererst, dass wir den einzelnen Menschen in seiner Würde sehen wollen, egal, wie er anlässlich der Demos gekleidet ist. Zum Thema Würde gehört vor allem, dass jeder, der in diesen Tagen auf der Straße und an der Schiene ist, diese Würde behält. Wir wollen nicht, dass Demonstrierende - vor allem auch Jugendliche - unwürdig behandelt werden. Und wir wollen ebenso wenig, dass Menschen in Uniform ihre Würde verlieren. Wir wollen uns als Angehörige der Evangelischen Jugend vornehmen, friedlich miteinander umzugehen, nicht beleidigend oder herabwürdigend zu sein. Wir sagen nicht „Bullen“; und wir bewerfen andere nicht mit Lebensmitteln, brennenden Strohsäcken oder anderen Gegenständen. Das signalisiert nur „Du bist für mich als Mensch nichts wert“. Wir machen da nicht mit. Das ist nicht im Sinne der Ev. Jugend und schon gar nicht im Sinne Jesu Christi. Denn wir haben unsere Würde Gott zu verdanken und sollten sie erhalten. Darüber hinaus halten wir gerade Eier- und Lebensmittelwerfen für ganz gefährlichen Missbrauch von Gaben der Schöpfung, die so viele andere entbehren müssen, weil sie unter Armut leiden. Und es sind solche Gaben, die uns zum Leben dienen sollen.

Für uns gilt: „Ich bin Christ. Ich gehöre zur Evangelischen Jugend. Ich will friedlich für unsere Rechte demonstrieren und die von Gott geschenkte Würde jedem Menschen ermöglichen. Darum verzichte ich auf unsinnige Provokationen, die eben nicht mit dieser Friedlichkeit übereinstimmen.“ Wir wollen anderen ihre Würde zugestehen und hoffen, dass auch andere in diesen Tagen darauf achten, dass unsere Würde erhalten bleibt; und das ohne Gewalt.

Der Konventsvorstand der Evangelischen Jugend Lüchow-Dannenberg:
Jan Mävers (Müggenburg), Simon Gohlke (Woltersdorf), Judith Mischke (Katemin), Jan Schneider (Gollau), Gesine Kaiser (z. Zt. Neuseeland), Michael Ketzenberg (Breselenz)



Jörg Prahler
Predigt in Langendorf nach dem Castor,
Sprüche 26,12

Es steht geschrieben in den Sprüchen Salomos: „Wenn du einen siehst, der sich weise dünkt, da ist für einen Toren mehr Hoffnung als für ihn.“
Manchmal komme ich mir wie ein Idiot vor, wenn die Tage nahe sind, dass der Castor anrollt. Meine Gedanken sind schon da. Wenn ich telefoniere mit Freunden weit weg. Mit der entfernten Verwandtschaft, wenn ich im Terminkalender blättere – dann sage ich:„Es ist wieder Castorzeit! Diese Woche ist wieder Castorzeit.“ Und manchmal höre ich dann ein „Ach ja?“ und unausgesprochen „Bei mir nicht.“ Oder ein „Und? Ist das so wichtig?“ Und vielen geht es so aus meiner Gemeinde. Als hätten wir eine seltene, eigenartige Krankheit, von der ein Nichtbetroffener noch nie etwas gehört hat. „Ach ja, Sachen gibt´s?“

Dabei habe ich mir eine gewisse Routine erarbeitet. Wenn wir von der Kirche uns auf den nächsten Castor vorbereiten, dann sind wir gleich wieder bei den alten Geschichten. „Weiß du noch?“ „Erinnerst du dich noch?“ Die Alten erzählen mit sorgenschwerer Miene und ein bisschen auch mit Stolz, dass sie früher schon dabei gewesen sind. Die Neuen hören zu mit ungläubigem Staunen, was hier so alles passieren kann in diesen Tagen im Herbst. Und irgendwie ist das alles auch ein bisschen bescheuert. Und irgendwie ist das ganz richtig so.

Mir wird es eng in der Brust, wenn das erste mal die Kolonnen von Polizeiwagen mir entgegenkommen. Wenn ein grünweißer Bulli im Schneckentempo den Weg rauf nach Langendorf hoch kriecht, jeden Busch und Stock und Stein in Augenschein nimmt – und dazu doch irgendwie doch auch mich und meine Lieben. Wenn die Gullis zugeschweißt werden und ich merke, wie mich das stört. Obwohl ich doch sonst im Allgemeinen eher überhaupt gar nicht für Gullideckel zuständig bin – seien sie zugeschweißt oder seien sie offen. Wenn man nicht mehr jedes Gespräch übers Telefon führt. Wenn man anfängt, schlecht zu schlafen, weil zuviel Sicherheit da ist und zu wenig das Gefühl von Freiheit. Und auch dieses Gefühl ist altvertraut, ohne dass man es im Kopf wirklich ganz klar kriegen kann. Ticke ich eigentlich noch ganz richtig?

Wir führen die gleichen Gespräche. Mit den Kirchenvorständen, wie man ´s handhaben will. Mit den Konfliktmanagern, wie die Zusammenarbeit aussehen kann. Wie einer den anderen sieht. Wie man sich manchmal nahe ist und das Gleiche will. Und manchmal ist man sich fern. Wie die Stimmung gut ist bei Kaffee und Brötchen und man lacht sich an und einer sagt, „Ich freue mich ...“ und es bleibt der Geschmack, dass man sich immer noch nicht klar genug ausgedrückt hat. Trotz allem Schönen freue ich mich nicht. Ich könnte heulen. Es ist so schwer zu erklären. Und manchmal glaube ich, ich würde es auch nicht verstehen, wenn man es mir erklären würde. Man muss es fühlen lernen. Und auch das ist so wie immer. Man fühlt sich ein bisschen wie der Verrückte, den keiner versteht. „Ist ja gut. Ist ja gut.“ Nichts ist gut!

„Wenn du einen siehst, der sich weise dünkt, da ist für einen Toren mehr Hoffnung als für ihn.“
Ich bin auf der Demo in Gorleben und es sind so viele Menschen da. Madsen könnte man hören, wenn man zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist. Jede Menge Politiker sind da zum Anfassen, wer das möchte. Sogar der vegane Eintopf schmeckt in diesem Jahr. Auf einmal ein Raunen und die Menge teilt sich. Ein Totenschiff kommt mit schlaffen Segeln angefahren. Geisterhafte Gestalten in schwarzweißgrauen Fetzen mit Stelzenbeinen und mit leeren Blicken stemmen sich in die Seile und ziehen das Gefährt. Am Ruder sitzt der Kapitän, Dreispitz, wirres Haar und wirrer Blick, fahrig und getrieben zugleich seine Bewegungen. Langsam verzögert, sinnlos und bedeutungsschwer. Vier, fünf Sekunden nur, dann ist der Zug vorüber. Der Müll vor dem uns graut, auf dem Weg nach weiß nicht wo, gelenkt, gesteuert von einer Gestalt, die nicht weiß, was sie tut. Von der nichts Gutes zu erwarten ist. Ich habe eine Gänsehaut bekommen und halte das für viel, viel angemessener als manche heiße Wut und manche Demoheiterkeit. Als der Duft von Würstchen rüberweht, ist mir noch nicht nach Essen. Und auch das bedeutet was.

Die Demo ist vorbei, und manche bleiben sitzen. Wir fahren nach Hause und sollen von eins bis fünf wiederkommen. In der Nacht vergeht die Zeit langsamer. Es gibt nicht viel zu gucken, es gibt nicht viel zu sehen. Nach einer Stunde fängt alles an, sich zu wiederholen. Die jungen Leute schlafen auf Strohsäcken und liegen unter goldenen Decken. Wenn sich einer bewegt, dann raschelt es, wie wenn man an Weihnachten das Lametta auspackt. Der Flutlichtmast der Polizei hat 16.000 Watt. Schaut man hinein, ist man sofort geblendet. Aber das Licht, dass sich auf den dreihundert Decken reflektiert ist warm und schön. Unwirklich.

Wir trinken Tee und wir trinken Kaffee. Und wir sprechen die Beamten an. Die sind mal so und mal so, aber langweilig ist ihnen auch. Der eine meint, was die da machen, das ist alles nur Show. Nur für die Medien, da steckt in echt doch nichts dahinter. Als wir zu erzählen beginnen, da sieht man ihm an, er will sich nicht belabern lassen und er will schon gar nicht ab von seinem Standpunkt.

Aber die Zeit ist lang und irgendwann, da ändert sich was. Er fühlt sich ernst genommen und er fängt an, unsere Argumente ernst zu nehmen. Vielleicht keimt so was wie Verständnis auf. Oder was, was mal Verständnis werden könnte. Wie verabschieden uns und geben uns die Hand. Und das ist ernst gemeint. Und nächsten Tag sehen wir uns wieder, er kommt extra an. Der Händedruck und das lächeln sind ehrlich.

Zwei andere junge Beamte sind von Anfang an viel offener. Sie kommen aus dem normalen Streifendienst, vielleicht erwarten sie von Anfang an nicht gleich das Schlimmste. Vielleicht sind es einfach nur zwei nette, freundliche Kerle.
Auch sie wissen nicht viel Bescheid über den Atommüll und über Gorleben. Ein bisschen später: „Ich kann das schon verstehen. Und ich wär wahrscheinlich auch dagegen, wenn einer den Müll vor meine Haustür kippen würde.“ „Ja“, denke ich. Und „ Ja und Nein.“ Zu kurz gedacht, dass wir nur Mitleid wollen oder Schonung, weil wir betroffen sind. Weil wir so sind wie der in der Klasse, den alle Lehrer auf dem Kieker haben. Der immer den Ärger kriegt, egal was wirklich passiert.

Es geht in Gorleben nicht um einen Widerstand, der aus berechtigten Gründen eigennützig ist. Dann dürfte man auch Mitleid mit uns haben. Und dann dürften wir bedauert und bemitleidet aber zurecht untergehen, weil wir zu schwach sind uns durchzusetzen, als kleiner eigennütziger Landkreis in einer großen eigennützigen Welt.

Aber es ist ganz anders.
Wer hier lebt und hier kämpft gegen den Müll und die Müllproduktion, gegen den vieltausendmal strahlenden Tod, der tut es nun mal nicht für sich selbst. Der tut es für alle anderen, für die weit weg. Für die nach uns. Für die vielen Generationen, die von der Atomenergie nie etwas anderes haben werden als den ewigen Fluch. Die versagen sich selbst alle Geschenke, alle Bestechungen, die blicken auf die Gefahr, vor der man doch so leicht die Augen verschießen könnte. Wer eigennützig wäre, der würde nicht demonstrieren. Der würde konsumieren und der würde kassieren. Hier wird Verantwortung übernommen, die viele andere nicht mal sehen!

„Wenn du einen siehst, der sich weise dünkt, da ist für einen Toren mehr Hoffnung als für ihn.“
Warum verstehen die Menschen das nicht? Viele interessieren sich nicht. Sie informieren sich nicht. Das ist sehr bedauerlich. Aber irgendwie besteht ja Hoffnung. Gespräch für Gespräch. Mann für Mann, Frau für Frau können wir überzeugen. Und dann gibt es doch für eigentlich fast alle ein erstes mal, dass man begreift.

Die Clowns fallen mir auf. Mit ihren Masken, den schrillen Kostümen, dem breiten Grinsen. Es ist alles übertrieben. Sie sind die Toren, sie sind die Narren, die scheinbar nichts wichtig nehmen. Die alles veralbern. Aber tatsächlich decken sie das Absurde erst so richtig auf. Pinocchio, der Atomlobbyist trägt verkohlte Babypuppen auf dem Rücken. „Für die Zukunft unserer Kinder.“ Steht auf seinen Schildern. An den Narren erkennt man, wie närrisch die Argumente sind. Wie närrisch man doch selber ist. Man blickt in einen grellen Spiegel. Bekommt eine Chance, wach zu werden.

Die wirklichen Narren und Toren sind ganz andere. Es ist kein Mangel an Ernsthaftigkeit, der einen wahren Toren auszeichnet. Auch kein Mangel an Intelligenz oder an Wissen. All das muss nicht fehlen, sondern kann im Gegenteil sogar im Übermaß vorhanden sein.

Den wahren Toren macht hingegen ein Mangel an Demut aus. Ein Mangel an Einsicht in die eigenen Grenzen, Selbsterkenntnis und ich will sagen Gottesfurcht. Die Weisheit sagt, „Nicht ich habe alle Fäden selbst in der Hand und nicht ich weiß alles besser.“ Das Gegenteil davon macht einen wahren Toren aus.

Und die Atomtechnologie braucht Toren, leichtfertige Menschen, die sie in ihren Bann ziehen kann, die dann berauscht von der eigenen Kunstfertigkeit, allen Zweifel beiseite schieben. Und die Atomindustrie hat, was sie braucht gefunden. Man glaubt es kaum.
Man muss schon ein dickes Fell haben und in einer unrealistischen Weise von sich selber überzeugt sein, um nach Harrisburg und Tschernobyl ein Kernkraftwerk weiter zu betreiben und es für sicher zu halten, obwohl es doch Menschen sind, die die Anlagen steuern.

Man muss sich schon sehr den Blick für die Realität verstellt haben und man muss die Abgründe des Menschseins bewusst nicht wahrhaben wollen, wenn man nach dem 11. September Angriffe von außen gegen Atomanlagen für quasi nicht vorstellbar hält. Wenn Kernkraftwerke weiter in Betrieb sind, die einstürzen und zusammenbrechen würden, wenn ein Verrückter mit einem großen Flugzeug sie ins Visier nimmt.
Und was will man dazu sagen, dass das Versuchsbergwerk Asse II so kläglich scheitert, ohne dass der Versuch auch nur ansatzweise klug macht? Wie kann man noch behaupten, der giftigste Müll, den die Welt je gesehen hätte, wäre in einem Loch im Salz auf ewig sicher aufgehoben?

„Wenn du einen siehst, der sich weise dünkt, da ist für einen Toren mehr Hoffnung als für ihn.“
Wenn ich auf die Gefahren der Atomenergie hinweise, dann geht es nicht in erster Linie darum, auf die Fehler und Unzulänglichkeiten einer Technologie hinzuweisen. Es geht darum, auf die Fehler und Unzulänglichkeiten von uns Menschen hinzuweisen. Wir fühlen uns selbst gerne sehr schlau, bleiben den Beweis dafür, dass wir es sind, aber nicht selten schuldig. Hochmut, Selbstüberschätzung und Blindheit gegenüber den Folgen unserer Taten sind von Anfang an die Ursünden von uns Menschen. Adam, Eva und der Apfel. Die weiche Stelle, an der man uns Menschen packen kann.
Weise ist der Mensch, der seiner Fehlerhaftigkeit Rechnung trägt. Wer es nicht tut, der ist auf einem schlimmen Weg. Dann gnade uns Gott, behüte uns Gott.
Amen.
Quelle: "Pastorenberichte 2008" Kirchenkreis Lüchow-Dannenberg