Donnerstag, 28. Februar 2008

Atomkonsens vor dem Aus. Auf Eis gelegt /27.02.08

VON JOACHIM WILLE,
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Frankfurter Rundschau fr.online.de

Der Atomausstieg wird vertagt. Zumindest bis zur nächsten Bundestagswahl im Herbst 2009 dürfte kein Atomkraftwerk (AKW) mehr vom Netz gehen. Damit könnte der Ausstiegsplan für alle noch am Netz befindlichen 17 deutschen AKW revidiert werden, falls danach die nuklearfreundlichen Parteien von Union und FDP eine Regierung bilden können. Bislang sind nur die beiden Alt-Atommeiler Stade und Obrigheim abgeschaltet worden.

Die Stromkonzerne RWE, EnBW und Vattenfall rechnen nach FR-Recherchen damit, dass die von ihnen betriebenen drei nächsten Abschalt-Kandidaten Biblis A, Brunsbüttel und Neckarwestheim-1 auch ohne die von ihnen beantragten Laufzeit-Übertragung von anderen AKW noch bis Herbst 2009 oder sogar ins Jahr 2010 laufen können. Die nächste Wahl im Bund muss spätestens am 18. Oktober 2009 stattfinden.

Als 2000 die damalige rot-grüne Bundesregierung den "Atomkonsens" mit den Stromkonzernen schloss, waren für die drei Anlagen viel frühere Abschalttermine ins Auge gefasst worden. Biblis A sollte 2007, Neckarwestheim-1 2008 und Brunsbüttel Anfang 2009 vom Netz gehen - nach je rund 32 Jahren Gesamtlaufzeit. Allerdings wurden nicht diese Daten fixiert, sondern "Reststrommengen", die in den AKW noch produziert werden dürfen. Da Biblis A und Brunsbüttel mehrfach stillstanden, der südhessische Meiler zuletzt fast eineinhalb Jahre, verschieben sich die Abschaltpunkte.

Biblis A hatte Anfang 2008 nach Zahlen des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS), die der FR vorliegen, noch eine Reststrommenge vom 13 680 Gigawattstunden (GWh). Im letzten Jahr mit Dauerbetrieb, 2005, produzierte der Reaktor rund 7350 GWh - gut die Hälfte davon. Da Biblis A nach einem langwierigen Austausch von Dübeln erst seit Anfang Februar wieder am Netz ist, käme das endgültige Aus also frühestens im Herbst 2009.

Der neue RWE-Chef Jürgen Großmann hat auch bereits eingestanden, dass er mit der Bundestagswahl kalkuliert: "Wir können den Reaktor in Biblis so fahren, dass wir mit den Restlaufzeiten über die nächste Bundestagswahl kommen. Und dann gibt es vielleicht ein anderes Denken in Bevölkerung und Regierung", sagte er in einem Interview. RWE hat zudem eine Übertragung von Strommengen auf Biblis A beantragt - entweder sollen diese von dem nie in Betrieb gegangenen AKW Mülheim-Kärlich oder vom AKW Emsland kommen. Das lehnte das Bundesumweltministerium ab, wogegen RWE Klage beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof erhoben hat. Das für den heutigen Mittwoch erwarteten Urteil des Gerichts dazu wird mit Spannung erwartet. Laut RWE-Sprecherin Stephanie Schunk würde die Strommengenübertragung dazu führen, dass die beiden Biblis-Blöcke gemeinsam bis 2012 oder 2013 am Netz bleiben würden. Der jüngste, teils parallele Stillstand der Reaktoren hat RWE rund eine Milliarde Euro gekostet.

Der Stromkonzern EnBW schätzt, dass sein Altmeiler Neckarwestheim-1 "möglicherweise bis 2010" am Netz bleibt, wie Sprecher Dirk Ommeln der FR sagte. Der Reaktor hatte Ende 2007 noch eine Reststrommenge von 10 247 GWh. Rein rechnerisch käme der Konzern damit nur bis August 2009. Allerdings lässt EnBW den Meiler, der auch Strom fürs Netz der Deutschen Bahn liefert, offenbar seit Frühjahr 2007 mit verminderter Leistung laufen. In einigen Monaten lag die Stromproduktion nach FR-Informationen um 50 Prozent unter dem Maximalwert. Folge: Auch dadurch wird Reststrommenge gespart; das Kraftwerk kann länger am Netz bleiben.Der Energieexperte des Öko-Instituts Darmstadt, Stephan Kurth, hält die lange Absenkung der Stromproduktion für ungewöhnlich. "Normalerweise liegt die Auslastung bei AKW bei 90 Prozent", kommentierte er. EnBW wollte zu den einzelnen Monatsdaten aus Wettbewerbsgründen nicht Stellung nehmen. Es hieß nur, alle Anlagen des Konzerns würden "wirtschaftlich optimiert gefahren".Der Konzern hat ebenfalls eine Laufzeit-Übertragung beantragt, und zwar vom neueren Schwesterkraftwerk Neckarwestheim-2. Die Entscheidung des Bundesumweltministeriums dazu soll im Mai kommen. Beide Blöcke könnten bei positivem Bescheid bis 2017 am Netz bleiben.

Vattenfall rechnet damit, dass sein derzeit noch abgeschaltetes AKW Brunsbüttel bis Frühjahr 2010 am Netz bleibt. Es war nach einem Kurzschluss in der Schaltanlage im Juni 2007 vom Netz genommen worden. Das Wiederanfahren wird im März erwartet. Auch Vattenfall hat versucht, Reststrommengen von Mülheim-Kärlich oder Krümmel auf Brunsbüttel zu übertragen, erlebte vor dem Oberverwaltungsgericht Schleswig aber ein Schlappe. Vattenfall ist deswegen vor das Bundesverwaltungsgericht gezogen.