Dienstag, 12. Juli 2011

Japans Katastrophenzone / 5.07.11

Wo kleine Kinder Strahlen messen
Von Hendrik Ternieden

Bereits Vierjährige tragen Strahlenmessgeräte, mehr als 100.000 Menschen mussten ihre Häuser verlassen, Fischer und Landwirte kämpfen gegen das Atom-Stigma: Fast vier Monate nach dem Tsunami ist Japan ein Land im Ausnahmezustand - und die Behörden sind oft überfordert.

Sie bilden jetzt eine Dorfverwaltung ohne Dorf. Als die Anweisung von der Regierung kam, als es hieß, die Radioaktivität sei zu hoch, da räumten Ende Juni auch die Beamten von Iitate ihre Büros und zogen ins 20 Kilometer entfernte Fukushima City. Dort verwalten sie nun, was von ihrem 6000-Einwohner-Ort übrig ist: ein paar Firmen, die nur weitermachen dürfen, solange die Angestellten ausschließlich in Innenräumen arbeiten. Und einige alte Einwohner, die sich weigern, ihre Heimat zu verlassen.

Iitate ist eine Geisterstadt geworden. Die Ausharrenden wollen laut der Zeitung "Mainichi" die Häuser derjenigen bewachen, die fortgegangen sind. Andere nehmen Anfahrtswege von 70 Minuten in Kauf, um in ihrer alten Firma weiterarbeiten zu können. Das mache sie glücklich, sagte eine 37-Jährige dem Blatt. Nur die Fahrt an ihrem Haus vorbei stimme sie traurig, weil sie dort nicht mehr leben könne. Sie frage sich: "Warum musste uns das passieren?"

Fast vier Monate nach dem verheerenden Erdbeben, dem Tsunami und dem Super-GAU im AKW Fukushima ist Japan noch immer ein Land im Ausnahmezustand. Doch während die Weltöffentlichkeit vor allem das Geschehen in der havarierten Atomanlage verfolgt, gerät das Schicksal der Menschen im Katastrophengebiet langsam in den Hintergrund.

Menschen, die ihre Heimat verloren haben, wie die Einwohner von Iitate. Fischer, die ihre Ware in fremden Häfen ausladen, um das Stigma "Fukushima" zu vermeiden. Senioren, die sich in hohem Alter an das Leben in provisorischen Wohnsiedlungen gewöhnen müssen - so wie in Kawamata, einem Ort am Rande der Evakuierungszone.

In Kawamata hat zum ersten Mal einer der in Japan populären 24-Stunden-Läden in einer provisorischen Wohnsiedlung aufgemacht, berichtet "Mainichi". In dem Shop würden unter anderem Lunchboxen, frisches Gemüse und Waschmittel verkauft. "Ich habe keinen Führerschein, da ist so ein Laden sehr hilfreich", wird die 77-jährige Mieko Matsuura zitiert. Der Betreiber des Shops hat auch Kaffeetische und Stühle bereitgestellt - ein Hauch von Alltag in einem Leben im Ausnahmezustand.
Quelle: Spiegelonline