Montag, 21. Juli 2008

Frankreich spielt Atomvorfälle herunter /21.07.08

Ein Artikel aus Welt online, von Jochen Hehn
Frankreich spielt Atomvorfälle herunter
Durch radioaktive Abfälle droht Verseuchung - Doch das Umweltministerium gibt Entwarnung und die Franzosen lieben ihre Kernkraftwerke

Paris - Offiziell gibt es keinen Grund zur Sorge. Auch nach dem schweren Uranunfall im französischen Atomkraftwerk Tricastin Anfang dieses Monats gilt es als unbedenklich, seinen Urlaub im Wildwasserparadies der Ardèche in Südfrankreich zu verbringen: Zwar sind die beiden Flüsschen Gaffière und Auzon mit 30 000 Liter radioaktiv belasteter Flüssigkeit verseucht, eine Verstrahlung der in der Nähe liegenden Ardèche kann aber von Amts wegen mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Beunruhigend ist es jedoch, wie die Betreiber des Kraftwerks, die Behörden und der französische Staat mit dem Unfall - und nicht nur mit diesem - umgehen.

Auch bei dem erneuten Störfall am Freitag in der Atomanlage in Romans-sur-Isère im Südosten des Landes kam sogleich die Erklärung der französischen Atomaufsicht (ASN), eine Gefahr für die Umwelt und die Mitarbeiter bestehe nicht. Die Behörde stufe das Leck, aus dem knapp 800 Gramm flüssiges Uran ausgetreten waren, auf der ersten Stufe der internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse ein. Die Skala umfasst die Stufen null bis sieben; null ist die niedrigste. Umweltminister Jean-Louis Borloo bemühte sich, die Bevölkerung zu beruhigen. Eine Überreaktion sei unangebracht. Schließlich gebe es jedes Jahr 115 "kleine Unregelmäßigkeiten" in der französischen Atomindustrie.

Ein Unbehagen bleibt. Die französische Tageszeitung "Le Monde" berichtete in einem Artikel über die Panne Anfang Juli in Tricastin, dass entgegen den ersten Versicherungen der Behörden in den Departements Drome und Vaucluse das Grundwasser auf einmal doch anormal hohe Strahlenwerte aufweise. Dies hätten neue Messungen ergeben. Doch stünden sie offenbar nicht in Verbindung mit dem Uranunfall. Ursache für die Verschmutzung könnten 770 Tonnen radioaktiver Abfall aus Militärbeständen sein, die zwischen 1969 und 1976 auf dem Reaktorgelände in der Erde verbuddelt worden sind. Erst am 4. Juli, drei Tage vor dem jüngsten Unfall, hatte die unabhängige Forschungs- und Informationskommission für Radioaktivität (Criirad) nach alarmierenden Messwerten auf die Gefahr einer drohenden Verseuchung hingewiesen. Doch anstatt den radioaktiven Müll fachgerecht zu entsorgen, wurde er mit neuer Erde zugeschüttet.

In den betroffenen Departements wurde dennoch Teilentwarnung gegeben. Die Entnahme von Grundwasser zur Bewässerung der Felder und Gärten oder zur Tierfütterung ist entlang den beiden Flüssen ab einer Entfernung von 100 Metern zu den Ufern wieder erlaubt. Angeln, Baden und andere Wassersportarten bleiben weiter untersagt. Umweltminister Borloo hat versichert, dass die Bevölkerung durch den Unfall "nicht unmittelbar" in Gefahr gewesen sei. Besteht etwa eine mittelbare Gefahr? Eine solche "Verharmlosung" erinnere an die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vor 22 Jahren, meinte die Anti-Atomkraft-Gruppe Sortir du Nucléaire (Aus der Atomkraft aussteigen), als in Frankreich die staatlichen Behörden der Öffentlichkeit allen Ernstes mitteilten, die radioaktive Wolke, die über weite Teile Europas bis nach Spanien zog, sei am Rhein stehen geblieben. Erst im Jahr 2001 nach einer Klage 500 Krebskranker gegen die Regierung fand eine Untersuchung heraus, dass die Strahlenbelastung tausend Mal höher war als damals angegeben.

Einen ähnlichen Fall gab es in Polynesien im Südpazifik, wo nach zahlreichen oberirdischen und unterirdischen Atombombentests eine starke Zunahme von Schilddrüsenkrebs in der Region beobachtet wurde. Doch Warnungen wurden ignoriert. Noch im Jahr 2003 beteuerte der damalige Präsident Chirac, der in seinem ersten Amtsjahr trotz weltweiter Proteste die Atomtests wieder aufgenommen hatte, dass diese die Gesundheit "weder auf kurze noch auf lange Sicht" beeinträchtigen würden. Zumindest fahrlässig könnte man auch das Verhalten der staatlichen Atomaufsicht ASN bezeichnen, die unlängst nach der Veröffentlichung einer Studie über das erhöhte Krebsrisiko für Kinder in der Nähe von deutschen Atomkraftwerken erklärte, sie werde "darüber nachdenken", ob eine ähnliche Untersuchung in Frankreich "sinnvoll" sei. Ein Lob erntete ASN von der Umweltorganisation Greenpeace, als sie jetzt in Tricastin den Betrieb der defekten Entsorgungsanlage kurzentschlossen einstellte und die Betreiberfirma Socatri aufforderte, das Leitungsnetz so schnell wie möglich instand zu setzen. Dies zeige, dass die ASN gegenüber der Kernkraftlobby an Unabhängigkeit und Durchsetzungsvermögen gewonnen habe.

Ein grundlegender Wandel in der französischen Atompolitik ist aber wohl kaum zu erwarten. Eher scheint alles beim Alten zu bleiben, auch wenn Borloo jetzt in einem Interview versicherte, das Grundwasser in der Nähe aller Kernkraftwerke überprüfen zu lassen. Im Gegensatz zu Deutschland, wo Regierungen bei der Entscheidungsfindung auf die Länder und starke Interessensverbände Rücksicht nehmen müssen, besteht in Frankreich in dieser Frage seit Langem ein breiter Konsens über alle Parteigrenzen hinweg. Wie Chirac setzt auch sein Nachfolger Nicolas Sarkozy hauptsächlich auf die Atomkraft. Frankreich steht mit 59 Kernkraftwerken, die 76,8 Prozent des Stroms erzeugen, in Europa klar an der Spitze.

Nukleare Störfälle und Pannen, 40 allein im letzten Jahr in Fessenheim (Elsass), dem ältesten aller Kernkraftwerke, scheinen die französische Bevölkerung nicht gegen die Atompolitik der Regierung aufzubringen. Offenbar teilen sie die Argumentation von Sarkozy, dass die Atomtechnik das Heilmittel zur Rettung vor der Klimakatastrophe sei, was der Präsident kürzlich auch auf dem G-8-Gipfel in Japan betonte. In ihrer tief verwurzelten Technikgläubigkeit neigen sie dazu, die Möglichkeit menschlicher Irrtümer nicht so ernst zu nehmen. Angesichts steigender Treibstoff- und Gaspreise schieben zudem immer mehr Franzosen den Gedanken an einen Atomausstieg weit von sich. Während in Deutschland seit Jahren Zehntausende gegen nukleare Endlager oder Castor-Atommülltransporte von der französischen Wiederaufbereitungsanlage La Hague nach Gorleben protestieren, vermögen sich in Frankreich vergleichsweise wenige Menschen darüber aufzuregen. Mehrfach gab es hingegen Protest von Gemeinden, die bei der Auswahl für den Standort eines Kernkraftwerks übergangen wurden. So geschehen im Jahr 2004, als für den Bau des neuen Druckwasserreaktors vom Typ EPR (European Pressurized Water Reactor) die Gemeinde Flammanville in der Normandie den Zuschlag erhielt. Der Bürgermeister der neuen Kernreaktorgemeinde krähte vor Freude, sein Amtskollege aus der Küstenstadt Dieppe war untröstlich darüber.
Quelle: Welt online