Sonntag, 7. Februar 2010

Glaskokillen nur "sicher", wenn sie trocken sind /2.02.10

Zweifel an Konzept
Forscher streiten über Langzeitsicherheit von Atommülllagerung
Von Christoph Seidler

Hochradioaktiver Müll aus Atomkraftwerken muss Hunderttausende Jahre sicher unter der Erde gelagert werden - doch ein Forscherteam warnt jetzt vor dem bisher praktizierten Verfahren: Wenn Wasser in die Behälter gelangt, könnten gefährliche Reaktionen ablaufen. Andere Wissenschaftler widersprechen.

Sie sind etwa anderthalb Meter hoch und aus Edelstahl. Sie sind mit rund 400 Kilogramm Glasmasse gefüllt - und an der Oberfläche bis zu 180 Grad heiß. HAW-Kokillen sollen hochradioaktiven Atommüll ("High Active Waste") für die Ewigkeit sicher einschließen. Bis zu 28 der Röhren passen in einen Castor-Behälter.

Aus Wiederaufbereitungsanlagen wie im französischen La Hague oder dem britischen Sellafield wird die strahlende Fracht, die bei der Aufarbeitung von Brennstäben aus deutschen Atommeilern entstanden ist, zum Abkühlen in das Zwischenlager Gorleben geschickt. Irgendwann sollen die Kokillen dann in einem nationalen Atommüllendlager stehen - wann und wo auch immer dieses erreichtet wird.

Die Einlagerung beruht auf einer denkbar simplen Annahme: Das hochgefährliche Atommaterial soll in den Kokillen extrem gut gesichert sein. Hitze kann der Glasmatrix ebenso wenig anhaben wie Wasser oder andere chemische Verbindungen.

Immerhin muss der radioaktive Müll für Hunderttausende Jahre von der Umwelt abgeschirmt werden - bis die Strahlung eines fernen, fernen Tages weitestgehend abgeklungen ist.

"Solange die Behälter trocken stehen, ist alles prima"

Nun aber erhebt eine US-deutsche Forschergruppe im Fachmagazin "Angewandte Chemie" Zweifel am Grundprinzip der Lagerung. Die Wissenschaftler warnen, dass das Glas unter bestimmten Bedingungen bersten könnte. Dann würden im schlechtesten Fall hochgefährliche radioaktive Stoffe freigesetzt.

"Solange die Behälter trocken stehen, ist alles prima", sagt Geowissenschaftler Wulf Depmeier von der Universität Kiel im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Problematisch könnte es allerdings werden, wenn das Boratglas mit Wasser in Berührung komme - dann könnten eine ganze Reihe gefährlicher Substanzen entstehen, die das Glas bröckeln lassen.

Dabei handelt es sich um chemische Verbindungen, die man aus der Natur bisher nicht kannte. Den Wissenschaftlern gelang es aber, unter Laborbedingungen verschiedene dieser Boratverbindungen mit Uran, Neptunium und Plutonium herzustellen. Diese sogenannten Aktinide sind allesamt Bestandteile des Atommülls - und könnten für die Stabilität des Glases schwerwiegenden Folgen haben, befürchtet Depmann: "Die Kristalle könnten die Glasmatrix sprengen." Eingelagerte radioaktive Verbindungen könnten dann vom Wasser ausgeschwemmt werden und in die Umwelt gelangen. Besonders große Sorgen macht den Forschern das Isotop Neptinium-237, das über eine Halbwertzeit von mehr als zwei Millionen Jahren verfügt.

Andere Forscher beruhigen

Wie lange die Edelstahlbehälter um das Glas herum durchhalten, hängt von der Korrosion ab: vielleicht für eine halbe Ewigkeit, vielleicht aber auch nur gut tausend Jahre, wie das Institut für Sicherheitstechnologie (ISTec) aus Köln im vergangenen Jahr herausgefunden hatte.

Am Karlsruhe Institut für Technologie (KIT), an dem sich Forscher ebenfalls mit der Verglasung von Atommüll beschäftigen, sieht man trotzdem wenig Grund zur Beunruhigung. Auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE verweisen die Wissenschaftler dort vor allem darauf, dass es in den HAW-Kokillen normalerweise nur sehr wenige Aktinide gebe. Bei der chemischen Haltbarkeit der Gläser sei deshalb "keine Beeinträchtigung" zu erwarten. In ihren Versuchen hätten die Kieler Forscher mit deutlich höheren Aktinid-Konzentrationen gearbeitet als in den Abfällen der Wiederaufbereitungsanlagen.

In Karlsruhe werden seit dem vergangenen Jahr 60 Kubikmeter flüssige Atommüllrückstände aus der Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe (WAK) verglast, die bis 1990 in Betrieb war. Die so hergestellten Kokillen, etwa 130 dürften es werden, sollen in ein Zwischenlager bei Greifswald gebracht werden. Sorgen um problematische Aktinid-Reaktionen müsse man sich nicht machen, heißt es in Karlsruhe - dafür gebe es zu wenig Verunreinigungen durch Substanzen wie Uran, Neptunium, Plutonium, Americium und Curium.

"Nicht Stand der Diskussion"

Auch das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) sieht durch die neuen Forschungsergebnisse keinen Handlungsbedarf. Für die "tatsächlich existierenden verglasten Abfälle" seien die neuen Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung von "geringer Relevanz". Sie würden "nicht den Stand der Diskussion um die Langzeitsicherheit bei der Endlagerung von verglasten wärmeentwickelnden Abfällen widerspiegeln", teilte das BfS SPIEGEL ONLINE mit. Auch die Experten dort verweisen darauf, dass die Aktinid-Konzentrationen in den HAW-Kokillen weit unter denen in den Kieler Laborversuchen lägen.

Depmeier sieht das allerdings anders: "Die Gefahr ist da." Das derzeit praktizierte Lagerungsverfahren müsse "überdacht werden". Die von den Wissenschaftlern entdeckten Boratverbindungen böten dafür sogar einen Ansatzpunkt, weil sie chemisch stabiler als die Silikatgläser seien.

Für die Zukunft der Endlagerung hat Depmeier einen vergleichsweise simplen Ratschlag: weniger Müll produzieren, um dann noch besser darauf aufpassen zu können. Die Konzentration des Strahlenabfalls in Boratverbindungen solle am besten stark erhöht werden, fordert der Wissenschaftler. Dann würde eine geringere Abfallmenge entstehen - und die ließe sich zumindest einfacher überwachen.
Quelle: http://www.spiegel.de