Montag, 20. Oktober 2008

Castor wirbelt Wendland auf /19.10.08

gelesen bei mz-web.de Mitteldeutsche Zeitung
In wenigen Tagen wird wieder radioaktiver Müll aus Frankreich nach Gorleben geliefert
VON STEFFEN REICHERT,

Der Kopierer ist im Dauerbetrieb. Er rattert und ächzt, und im Sekundentakt spuckt er die Briefe und Flugblätter aus, die dann ordentlich eingetütet oder in einem Holzregal abgelegt werden. "Sie verlassen den demokratischen Sektor", steht auf einem Papier. "Stopp Castor" auf dem anderen. Die "kleine Blockadefibel" mit juristischen Tipps für den Demonstranten liegt im Fach daneben.
Hier im Büro der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg ist derzeit Hochbetrieb. Das Telefon klingelt ohne Unterlass, gerade geht es um die Frage, ob ein IG-Metall-Vertreter zur großen Demo kommen wird. Es ist wieder soweit - der nächste Castortransport ins niedersächsische Gorleben steht an. Anfang November sollen zum elften Mal aus Frankreich radioaktive Abfälle ins Wendland gebracht werden. Und wer einmal während eines solchen Polizeigroßeinsatzes in der Region nördlich von Salzwedel gewesen ist, der weiß: Das Wendland ist im Ausnahmezustand.

Mehr als 15 000 Polizisten aus allen Bundesländern werden dort sein, Versammlungen sind verboten, Hubschrauber kreisen über dem Gebiet, Tausende Demonstranten blockieren die Straßen. "Es soll ein bunter und phantasievoller Widerstand sein", sagt Francis Althoff. Wie viele in der Region, die bis zum Mauerfall als Zonenrandgebiet galt, ist der heute 48-jährige Althoff Ende der 70er Jahre nach

Gorleben gekommen und dann geblieben. "Das sind 30 Jahre Widerstand", sagt er. Heute ist Althoff bei der Bürgerinitiative, die mit ihren 900 Mitgliedern und vielen Sympathisanten das logistische Rückgrat im Kampf gegen die Atomtransporte ist, ehrenamtlich für die Pressearbeit zuständig. "Unsere Arbeit fußt auf drei Säulen", sagt er. Da sei zum einen die "Juristerei", also der juristische Kampf gegen Politik und Atomlobby. Da sei die klassische Öffentlichkeitsarbeit und schließlich die für ihn wichtigste Säule: der sichtbare Protest auf der Straße. "Über den direkten Protest werden wir am stärksten wahrgenommen."

Der Kampf um die Deutungshoheit hat bereits begonnen: Während des Castortransports wird die Bürgerinitiative rund um die Uhr vier Pressesprecher im Einsatz haben. Und auch die Polizei hat inzwischen gelernt, dass die Bilder von Wasserwerfern und Straßenschlachten, blutenden Demonstranten und verletzten Polizisten für ihr Image nicht hilfreich sind. Deshalb wird Torsten Oestmann als Pressesprecher bei diesem Transport wieder mit dabei sein, inzwischen zum zehnten Mal in dieser Funktion.

Weniger Gewalttäter erwartet

Von Lüneburg aus wird er die Journalisten aus aller Welt mit Informationen versorgen. "Die überregionale Bedeutung des Einsatzes hat abgenommen", sagt er. Es würden weniger Demonstranten von außerhalb, auch weniger Gewalttäter anreisen. Entwarnung will er dennoch nicht geben. So seien militante Castor-Gegner dazu übergegangen, die Straßen zu unterspülen, um Fahrzeugkolonnen zu behindern. Es werde gewaltsam blockiert, sagt Oestmann, 2005 hätten Brandanschläge gegen Polizeiunterkünfte mehrere Millionen Euro Schaden verursacht. Die "wilden Scharmützel der neunziger Jahre" erwartet der Beamte jedoch diesmal nicht mehr. "Seit wir 2001 begonnen haben, Teams für das Konfliktmanagement einzusetzen, hat sich die Situation deutlich entspannt."

Deeskalieren und sich dennoch einmischen will auch die Kirche. In Dreier-Teams werden Pfarrer als Seelsorger mit weißen Reflektionswesten unterwegs sein, um an neuralgischen Punkten die Polizeieinsätze zu begleiten und zu dokumentieren. Von einem "Stellvertreterkonflikt" spricht Stephan Wichert-von Holten, einem "Konflikt zwischen Polizei und Demonstranten, der nicht gelöst werden kann". Er argumentiert, dass es eine politische Lösung braucht.

Tagelanger Widerstand

Warum er so klar Position bezieht? Für den Superintendenten wäre es "fatal, wenn sich die Kirche nicht einmischen würde. Natürlich endet jeder Transport mit einer Niederlage für uns", sagt Wichert-von Holten - denn nach tagelangem Widerstand wird die radioaktive Fracht im Zwischenlager eintreffen. "Aber uns geht es darum, dass an den Menschen vorbei nichts passieren darf." Und deshalb wird kräftig mobilisiert. Die Castor-Gegner rechnen 2008 mit mehr Demonstranten als in der Vergangenheit. Zu Zeiten der rot-grünen Bundesregierung hätten die Grünen nicht für den Widerstand geworben, diesmal sind sie wieder dabei, Grünen-Bundeschefin Claudia Roth hat ihr Kommen zugesagt. Sie wird dann in eine Region fahren, die im Ausnahmezustand ist. Eine Region, in der in diesen Tagen viele damit beginnen, die gelben X-Schilder als Zeichen des Widerstands wieder einmal neu zu streichen.
Quelle: mz-web.de Mitteldeutsche Zeitung