Getrickst, getäuscht, gelogen
Die Gorleben-Geschichte
Von Joachim Wille
Lilo Wollny ist 83 Jahre alt. Die Hausfrau sitzt in ihrer Küche, in dem alten Fachwerkhaus in Vietze an der Elbe, das schon ihren Großeltern gehörte. Die Beine wollen nicht mehr so recht, das Kreuz tut weh. Aber im Geiste ist sie hellwach wie eh und je. "Schade, dass ich nicht mit nach Berlin konnte", sagt die grauhaarige Frau. "So viele Leute waren dort, man konnte es kaum glauben." Ein paar alte Mitstreiter aus der Bürgerinitiative haben sie gerade besucht. Sie haben ihr alles erzählt, bei einer Tasse Kaffee. "Gorleben soll leben", der alte Spruch, plötzlich wieder aktuell. 50 000 Leute waren auf der Demo.
"Die Sache mit der Asse und dann die manipulierten Gorleben-Akten. Das hat Leute alarmiert, die geschlafen haben", sagt die Anti-Gorleben-Veteranin. Die Leute von der Bürgerinitiative haben den aktuellen Wahlspruch der CDU: "Wir haben die Kraft", in Berlin ergänzt: "Wir haben die Atom-Kraft". Das fand Lilo Wollny gut, es mache die Dinge klar. Aber die von der Union propagierte Atom-Renaissance ärgert die gebürtige Hamburgerin, die schon seit 64 Jahren hier, unweit von Gorleben, wohnt und mal für die Grünen im Bundestag saß, maßlos. Dass die CDU längere AKW-Laufzeiten will und damit mehr Atommüll, findet sie unglaublich. "Nach all dem, was passiert ist."
An einen Tag vor 32 Jahren kann Lilo Wollny sich genau erinnern. An den 22. Februar 1977. In Niedersachsen regierte der CDU-Ministerpräsident Ernst Albrecht. Für 18 Uhr abends war eine brisante Fernsehansprache anberaumt: Thema: Wohin mit dem Müll aus den deutschen Atomkraftwerken? Albrecht kündigte an, Niedersachsen werde das zentrale deutsche "nukleare Entsorgungszentrum" bekommen – und zwar in Gorleben. Ein Großprojekt, bestehend aus einem atomaren Zwischenlager, einer Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) und einem Endlager für den Müll aus der WAA, tief unten in einem Salzstock.
Lilo Wollny war geschockt. "Gorleben?" Der Name Gorleben war in den Zeitungen und im Fernsehen gar nicht mehr aufgetaucht, als in den Monaten zuvor mögliche Standorte diskutiert worden waren. "Wir sind fast vom Stuhl gefallen", sagt sie.
1977: Salz als Rettung
Das deutsche Atom-Endlager sollte in einem Salzstock gebaut werden. Darauf hatten sich die Atomwirtschaft und die Politiker bereits unter der SPD-geführten Bundesregierung von Helmut Schmidt geeinigt, die 1973, geschockt von der Ölkrise, ein riesiges Atomprogramm auflegte. Rund 50 AKW sollten gebaut werden, heute gibt es 17. Eine WAA-Atomfabrik sollte die abgebrannten Brennstäbe chemisch auflösen, um das restliche Uran und das Spaltprodukt Plutonium zur Nutzung in neuen Brennstäben zu gewinnen.
Ein "nuklearer Kreislauf" sollte entstehen – der allerdings nicht wirklich geschlossen sein würde. Denn beim WAA-Prozess entstehen extrem stark strahlende und heiße Reststoffe, die irgendwo untergebracht werden müssen. Salzstöcke galten in Deutschland dafür als am besten geeignet. Zuerst, ab 1967, hatte man die Einlagerung im ehemaligen Kali- und Salzbergwerk Asse bei Wolfenbüttel mit schwach- und mittelstark strahlendem Atommüll erprobt. Die Asse ist heute ein Sanierungsfall, der den Steuerzahler bis zu fünf Milliarden Euro kosten wird.
Für die Atombefürworter war die Sache klar: Furcht vor der Atomtechnik und Zweifel daran, Atommüll für 100.000 Jahre oder mehr sicher vergraben zu können, hielten sie für Hysterie. Der damalige Bundesforschungsminister Hans Matthöfer (SPD) behauptete 1976, bereits vor der Gorleben-Auswahl: "Atommüllbeseitigung ist technisch gelöst."
Der Hamburger Stromversorger HEW, der mit den Atommeilern Stade (heute: abgeschaltet) und Brunsbüttel (heute: Vattenfall) ins Atomgeschäft einstieg, verkündete in einer Broschüre: "Mit der Endablagerung in Salzformationen kann das Problem Atommüll als gelöst betrachtet werden. Die zur Diskussion stehenden mächtigen Salzlager sind von wasserundurchlässigen Schichten umgeben und liegen in erdbebensicheren Gebieten. Die Wärmeleitfähigkeit von Salz ist hoch genug, um die entstehende Zerfallswärme abzuleiten."
Aber welcher Salzstock wäre der richtige? Der Bund startete 1972 das Auswahlverfahren für die Salzformation, in der man auch den ganz "heißen" Atommüll vergraben wollte. Alle Standorte lagen in Norddeutschland, denn nur dort gibt es diese Gesteinsformationen. Eine Wissenschaftlergruppe untersuchte 100 Salzstöcke. Acht kamen in die engere Wahl, darunter auch Gorleben. In der Kategorie der am besten geeigneten Standorte waren nur noch drei, alle in Niedersachsen gelegen: einer bei Nienburg, einer bei Celle, einer im Emsland. Gorleben war draußen.
Albrecht drückt Gorleben durch
Wie Gorleben wieder zum favorisierten Standort wurde, hat ein Kommissionsmitglied, der heute emeritierte Geologieprofessor Gerd Lüttig, offenbart. Ministerpräsident Albrecht "wollte einen Standort in der Nähe der damaligen Zonengrenze haben, weil die Ostzonalen, wie er immer sagte, uns die Geschichte mit ihrem Endlager Morsleben eingebrockt haben", berichtete Lüttig vor wenigen Wochen der Nachrichtenagentur ddp.
Morsleben, das wusste der Experte aus Gesprächen mit DDR-Kollegen, war als Atomlager ungeeignet. Es gab Wasserzuflüsse, und die Wissenschaftler trieb die Sorge um, dass Morsleben absaufen würde. Radioaktiv verseuchtes Grundwasser, so die Befürchtung, könnte dann in den Westen, Richtung Helmstedt in Niedersachsen fließen "und uns da die ganze Landschaft verderben". Albrecht habe das "auf die Palme gebracht". Er legte sich auf Gorleben fest – zwei Kilometer Luftlinie von der Zonengrenze entfernt.
Freilich spielten offenbar noch andere, aber ebenso fachfremde Erwägungen eine Rolle. Die Region Gorleben war dünn besiedelt und strukturschwach, der Landkreis Lüchow-Dannenberg einer der ärmsten in der ganzen Bundesrepublik. Später wurde kolportiert, CDU-Kreispolitiker hätten ihren Parteifreund in der Staatskanzlei in Hannover sogar darum gebeten, er solle "doch da mal etwas machen". Das Endlager als regionales Konjunkturprogramm. Doch noch etwas kam hinzu. Die ländliche Bevölkerung galt als eher tumb, obrigkeitshörig, jedenfalls protestungeübt. Und: Gorleben wäre, da in einem geografischen Zwickel gelegen, der von der Elbe und der DDR-Grenze gebildet wurde, leicht mit der Polizei abzuriegeln gewesen. So wurde damals spekuliert.
Ob solcherart auch im niedersächsischen Kabinett diskutiert wurde, ist bis heute nicht bekannt. Albrecht selbst, heute 79 Jahre alt, schwieg all die Jahre zu diesen Details.
Die amtierende Landesregierung von Christian Wulff (CDU) hat die Akten aus den fraglichen Kabinettssitzungen als geheim eingestuft. Begründung: Eine Herausgabe gefährde die "Funktionsfähigkeit der Landesregierung". Ein "abstruses Argument", findet der Chef der niedersächsischen SPD-Opposition, Wolfgang Jüttner. "Wie kann das nach 30 Jahren der Fall sein?"
Die Mitglieder des Umweltausschusses im Landtag dürfen zwar die Akten einsehen, daraus zitieren dürfen sie aber nicht – Zuwiderhandlung steht unter Strafe. Das Einzige, was bislang an die Öffentlichkeit drang: Die vorgelegten Akten sind unvollständig.
Ernst Albrecht jedenfalls setzte sich Ende der 70er Jahre über den Rat der Wissenschaftler hinweg. Er düpierte sogar die von ihm selbst eingesetzte hochrangige Kommission zu Energie- und Endlagerfragen. Das von dem bekannten Kernphysiker und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker geleitete Gremium stellte die Arbeit 1977 ein. Sie war nutzlos geworden. Der Ministerpräsident hatte sich auf Gorleben festgelegt, seine Wahl getroffen und verkündet.
Aber auch die Fachleute in den eigenen niedersächsischen Fachbehörden hatten nichts mehr zu melden gehabt. Als sie von der Gorleben-Entscheidung hörten, fielen die Experten im Landesamt für Geologie aus allen Wolken. "Alle waren entsetzt", sagt Professor Dieter Ortlam.
Der inzwischen pensionierte Geologe, langjähriger Leiter der Bremer Außenstelle des Amtes, hatte auch die Böden der Region um Gorleben bereits Ende der 60er Jahre genau untersucht. Ergebnis: Die Ton-Deckschicht über dem Salzstock ist nicht dicht, sondern von einer Rinne durchzogen, die vor rund 500.000 Jahren in einer Eiszeit entstanden ist. Durch diese Rinne fließt stetig Grundwasser zum Salzstock, der dadurch "abgelaugt", also allmählich aufgelöst wird. Sogar oberflächennah wurde Salzwasser gefunden. Ortlam: "Es besteht die Gefahr, dass Lauge, die im Fall einer Atommüll-Einlagerung radioaktiv belastet sein könnte, nach oben gedrückt wird und ins Grundwasser gelangt."
Auf Albrecht ist Ortlam bis heute sauer. Eigentlich sei er damals ein Anhänger des CDU-Politikers gewesen. Doch dessen Gorleben-Votum habe ihn persönlich "enttäuscht und empört". Er sagt: "Ich möchte die Verantwortung, die Albrecht auf sich geladen hat, nicht tragen."
Auch im Bundestag galt der Alleingang des Ministerpräsidenten damals schon als höchst fragwürdig: Der SPD-Politiker Volker Hauff, seinerzeit parlamentarischer Staatssekretär im Bundesforschungsministerium, erklärte am 16. März 1977, rund sechs Wochen nach Albrechts Verkündung: Es gebe "Argumente, die dem niedersächsischen Ministerpräsidenten vor der Entscheidung des niedersächsischen Kabinetts übermittelt worden sind und die die Meinung der Bundesregierung wiedergaben, dass Gorleben kein optimaler Standort ist".
Doch im Wendland lief die Entsorgungs-Maschinerie an. Allerdings bei weitem nicht so glatt, wie Albrecht es sich erhofft hatte. Die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg entstand, und noch im selben Monat gab es die erste große Demo auf dem geplanten WAA-Bauplatz. Robert Jungk sprach, der bekannte Zukunftsforscher und Atomgegner ("Der Atomstaat"). Es folgten Protestaktionen, Infoveranstaltungen und eine Unterschriftensammlung.
Die Wendländer waren nicht so uninfomiert gewesen, wie Hannover offenbar gedacht hatte. Der Grund: Für den Standort Langendorf, nur wenige Kilometer elbabwärts, war Anfang der 70er Jahre der Bau eines Atomkraftwerks geplant worden. Schon damals hatte sich eine atomkritische Gruppe gebildet; aus ihr entstand dann die neue Initiative.
Die WAA-Firma, die Deutsche Gesellschaft zur Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen (DWK), eine Tochter der Stromkonzerne, machte sich zügig daran, die nötigen Grundstücke zu kaufen – und drohte mit Enteignung. Das wirkte. Der Großteil der Bauern verkaufte sein Land – für 4,20 Mark pro Quadratmeter. Manche wurden reich dabei. Das wiederum stachelte den Widerstand der anderen an. Im März 1979 kam es dann zum "Treck nach Hannover". Wendland-Bauern fuhren mit ihren Traktoren vor, begleitet von 100.000 Atomgegnern aus der Region, aber auch von weit her. Es war die Blütezeit der Anti-AKW-Bewegung. Und der Protest machte Eindruck. Albrecht entschied sich, Druck aus dem Kessel zu nehmen. Im Mai verkündete er in einer Regierungserklärung das Aus für die Wiederaufarbeitungsanlage. Die Planung für das Endlager aber ging weiter.
Im Juli 1979 schob Albrecht intern die Erklärung nach. In einem Brief an Bundeskanzler Helmut Schmidt schrieb er: Die Baumaßnahmen für das nukleare Entsorgungszentrum (NEZ) könnten "mit vertretbaren polizeilichen Mitteln" nicht geschützt werden, "solange die überwiegend feindselige Einstellung der Bevölkerung vor Ort und das starke Engagement weiter Bevölkerungskreise gegen das NEZ gegeben sind". Es müsse "in Sachen Wiederaufarbeitung Ballast abgeworfen werden", empfahl der Ministerpräsident. Dann, so sein Kalkül, bestehe die Chance, immerhin die Salzstock-Erkundung für das Endlager durchzusetzen.
Albrechts Ziel: "Entscheidend ist, dass die Arbeiten zur Vorbereitung des Endlagers vorangehen." Schmidt musste mitziehen. Jahre später bot sich Bayern als Ausweich-Standort für das WAA-Projekt an. Die Atomfabrik sollte in Wackersdorf gebaut werden, in der ebenfalls strukturschwachen Oberpfalz. Doch auch dort machte sich starker Widerstand breit. Die Stromkonzerne ließen das Projekt 1989 fallen.
Mai 1983: Manipulierte Gutachten
In Gorleben startete die Erkundung des Salzstocks 1979. Die Federführung lag bei der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) mit Sitz in Braunschweig. Sie wertete die vorhandenen Bodendaten aus, machte seismische Messungen, führte Tiefbohrungen durch, die erste im Jahr 1980. Atomgegner besetzten einen der geplanten Bohrplätze und errichteten ein Hüttendorf. Die "Freie Republik Wendland" bestand vier Wochen, dann räumte die Polizei das Gelände.
Drei Jahre später, 1982, wies der Bund die Experten an, in einem Gutachten eine Bilanz der "oberirdischen Erkundung" zu ziehen. Damit begann das zweite Kapitel der Endlager-Saga, Titel: Wie Gorleben durchgedrückt wurde.
Die PTB-Forscher bereiteten das Papier vor, sie schickten Kopien des Entwurfs an Fachkollegen. Dann wollten sie die Ergebnisse mit den Experten der anderen beteiligten Behörden besprechen. Passieren sollte das auf einem Treffen in Hannover, im Gebäude der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR).
Der für die Atom-Endlagerung zuständige PTB-Abteilungsleiter Professor Helmut Röthemeyer staunte, als er dort ankam. Es tauchten auch Vertreter des Bundeskanzleramts sowie des Innen- und des Forschungsministeriums der damals neuen Regierung unter Helmut Kohl (CDU) auf, unerwartet, ohne Einladung. Sie mischten sich ein, sie forderten die PTB auf, das Gutachten zu ändern, das eine Reihe kritischer Aussagen zu Gorleben enthielt – etwa die, dass das zerklüftete Deckgebirge über dem Salzstock nicht dafür geeignet wäre, "Kontaminationen auf Dauer von der Biosphäre fern zu halten". Röthemeyer erinnerte sich im Frühjahr dieses Jahres in der taz: "Es gab nichts Schriftliches, keine schriftliche Weisung, aber wir mussten das Gespräch klar als Weisung auffassen."
Noch heute ist der inzwischen pensionierte Wissenschaftler, der Wert darauf legt, kein grundsätzlicher Gorleben-Gegner zu sein, empört: "Ich habe in meinem ganzen Leben nie wieder ein solches Gespräch geführt."
Die Bombe platzte kürzlich – mit 26 Jahren Verspätung. Anhand von verschiedenen Fassungen aus den Akten von 1983, die unlängst zuerst in der FR veröffentlicht wurden, konnte die Manipulation des PTB-Gutachtens vom vorsichtig abwägenden wissenschaftlichen Papier zu einem politisch gesteuerten Bericht aufgezeigt werden. Die Endfassung schließt wunschgemäß mit dem Absatz: "Abschließend wird festgestellt: Die bestätigte Eignungshöffigkeit des Salzstocks für die Endlagerung der vorgesehenen radioaktiven Abfälle rechtfertigt das Abteufen von Schächten und die Erkundung des Salzstockinneren."
Der Begriff "Eignungshöffigkeit" war den Experten dringend nahegelegt worden. Er bedeutet in der Bergbau-Fachsprache: Es spricht nichts dagegen, dass das Bergwerk und die Einlagerung sicher durchgeführt werden können. Er sollte später noch eine große Rolle in der Gorleben-Debatte spielen.
Das Kanzleramt vertrat damals ein junger Oberregierungsrat namens August Hanning, der später die Karriereleiter weit hinauf stieg. Hanning wurde Präsident des Bundesnachrichtendienstes, heute ist er parteiloser Staatssekretär im Bundesinnenministerium von Wolfgang Schäuble (CDU). Er und die beiden Kollegen aus den Bonner Ministerien brachten eine ganz Reihe Änderungswünsche vor. Dass Hanning, heute 63, damals der Kanzleramts-Emissär gewesen war, bestätigte ein Ministeriumssprecher der FR. Doch Hanning kann sich angeblich nicht mehr erinnern, was er von den Wissenschaftlern forderte. "Ich habe das nicht mehr transparent vor Augen", ließ er dem Spiegel mitteilen.
PTB-Mann Röthemeyer erinnert sich dafür umso besser. Noch heute ist er stolz darauf, viele der Korrekturwünsche abgewehrt zu haben. "Da sollte noch einiges mehr umgeschrieben werden", sagt er.
Wie die Bundesregierung Einfluss nahm, dokumentiert auch ein Brief des Referatsleiters aus dem Forschungsministerium, Ziegler, an die PTB, ein Brief, dessen Inhalt ebenfalls erst seit kurzem bekannt ist. Darin schreibt der Mitarbeiter des Bundesministers: "Im übrigen bitte ich, den vermutlich hypothetischen Störfall des Wasser- und Laugenzutritts (…), der an mehreren Stellen die am 11. 5. 1983 diskutierte Zusammenfassung und Bewertung bestimmt, etwas weiter vom Zentrum der Betrachtung wegzurücken." Im Klartext: Einer der wichtigsten Einwände gegen Gorleben sollte als Nebensache im Text versteckt werden.
Gorleben wird Wahlkampfthema
Als das alles jetzt bekannt wurde, schlugen die Wellen hoch. Gorleben wurde Wahlkampfthema. Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) bezeichnete Gorleben als "politisch tot". Die Retourkutsche kam sofort. Politiker von Union und FDP warfen ihm vor, die alten Akten gezielt für sein Ziel Atomausstieg einzusetzen. Dann schaltete sich das Kanzleramt ein. Die 80 bis 90 Aktenordner mit der Gorleben-Historie sollen nun gemeinsam durchforstet werden.
Auf FR-Anfrage meldete sich Altkanzler Helmut Kohl zu Wort, der Mann, in dessen erster Amtszeit der Skandal passiert war. Er unterstütze eine "zügige Aufklärung" des Vorwurfs der Aktenmanipulation, teilte Kohls Büroleiter mit. Das könnte interessant werden. In seiner Regierungserklärung vom März 1983 hatte Kohl angekündigt: "Die Entsorgung muss und wird zügig verwirklicht werden." Wie das versucht wurde, weiß man nun. Bedenken wurden weggebügelt. Ob mit oder ohne Wissen der politisch Verantwortlichen – das ist die Frage.
Die Ex-Minister, in deren Ressorts Gorleben damals fiel, heißen Friedrich Zimmermann (CSU) und Heinz Riesenhuber (CDU). Beide weisen heute den Verdacht strikt zurück, sie hätten von dem Druck auf die PTB-Forscher wissen müssen. "Ich habe nicht einmal einen Schimmer, wie das damals gewesen ist", sagt Ex-Bundesinnenminister Zimmermann der FR. Es sei ja alles schon über 25 Jahre her. Wenn es so etwas gegeben habe, "dann hat es mich nicht erreicht", so der heute 84-Jährige.
So etwas könne auf Referatsleiter-Ebene eingefädelt worden sein, meint er. Zimmermann war damals für Umwelt- und Atompolitik zuständig. Das Bundesumweltministerium wurde erst 1986, nach dem Tschernobyl-Super-GAU, gegründet.
Heinz Riesenhuber, Ex-Forschungsminister, ist mit seinen 73 Jahren heute CDU-Bundestagsabgeordneter und tritt bei der Wahl am 27. September wieder an. Er erinnere sich nicht daran, dass das Thema Gorleben jemals im Bundeskabinett besprochen worden sei. Man habe dort über Themen diskutiert, "wenn sie streitig waren. Das war hier nicht der Fall", sagte er erst vor Kurzem in einem FR-Interview. Und: "Politischer Einfluss wäre gewesen, wenn Bundeskanzler Kohl dem zuständigen Referatsleiter im Forschungsministerium gesagt hätte, er soll die Gutachten umschreiben lassen. Das ist schlechterdings nicht vorstellbar."
Der Ex-Forschungsminister jedenfalls hält es heute trotz der bekannten Gutachten-Manipulationen für richtig, Gorleben weiter auf seine Eignung als Endlager zu erkunden. An dem Standort seien inzwischen 1,5 Milliarden Euro investiert worden. Riesenhuber folgert daraus: "Da ist es doch vernünftig, die gestoppten Arbeiten wieder aufzunehmen, um Klarheit zu schaffen."
Juli 1983: Das Kabinett winkt durch
Es startete das dritte Kapitel der Gorleben-Story. Das Kabinett winkte den Gorleben-Plan aus dem Zimmermann-Ministerium durch. Der Bau der Schächte im Salzstock begann im Juli 1983. Die Firma "Deutsche Gesellschaft zum Bau und Betrieb von Endlagern für Abfallstoffe" (DBE) baute das so genannte Erkundungs-Bergwerk aber offenbar deutlich größer – und viel teurer –, als es nur für diesen Zweck nötig gewesen wäre. Die oberirdischen Anlagen und der Schacht wurden gleich so dimensioniert, dass sie später zum Betrieb eines Atom-Endlagers taugen könnten. Fakten wurden geschaffen.
Das geschah natürlich nicht ohne politische Rückendeckung. Ein zufällig mitgehörtes Gespräch von Fachbeamten belegt, wie damals unter Mitwirkung des Innenministeriums getrickst wurde. Der Hamburger Geschichtsprofessor Helmut Bley wurde 1983 Zeuge einer Gorleben-Fachdiskussion, die im Speisewagen eines Intercity zwischen Hamburg und Hannover abgehalten wurde. Fünf Experten, einer davon aus dem Zimmermann-Ministerium, ein anderer von der PTB, sprachen darüber, wie man in Gorleben ein aufwändiges Planfeststellungsverfahren für den Endlagerbau umgehen könne. Laut Bley schlug einer der Leute vor, eine "Erkundung nach Bergrecht" statt eines "Endlagerbaus nach Atomrecht" durchzuführen. Das sei viel einfacher – nämlich ohne formale Bürgerbeteiligung. So wurde es gemacht.
Bei der Diskussion ging es auch um die Frage: Wie breit sollen die Schächte ausgeführt werden, die rund 800 Meter hinunter in den Salzstock gehen. Der Ministerialbeamte sagte, für eine reine Erkundung reichten 3,5 bis vier Meter. Nur: Die PTB, damals auch Gorleben-Betreiber, hatte 7,50 Meter gefordert, doppelt so viel. Diese Breite sei nur zu vertreten, wenn der Schacht auch für den industriellen Betrieb des Endlagers genutzt werde. Doch der für die Genehmigung zuständige Beamte wusste Rat. Er versprach, die große Röhre durchzu- winken, falls ein Gutachten beschafft werden könne, dass die 7,50 Meter "für notwendig oder wünschenswert erklärt". So kam es. Die Gorleben-Schächte bekamen einen Durchmesser von sogar über 7,50 Metern.
Gorleben galt als gesetzt. Die Anti-Gorleben-BI attackiert die Trickserei, seit sie herauskam. "Das war die "Erkundungslüge", sagt ihr Sprecher Wolfgang Ehmke. Inzwischen ist die XXL-Ausführung der Anlagen aber auch offiziell bestätigt. Der heutige Gorleben-Betreiber, das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) in Salzgitter, räumte im Frühjahr 2009 in einem internen Papier ein: Die Kosten in Gorleben sind mit 1,5 Milliarden Euro auch deswegen so exorbitant hoch gestiegen, weil der Ausbau überdimensioniert war. Ein reines Erkundungsbergwerk hätte maximal 500 Millionen Euro gekostet, gibt BfS-Präsident Wolfram König an.
Es drängt sich die Frage auf, ob Gorleben also ein "Schwarzbau" ist. Auch der atomkritische BfS-Chef, der in der Ära des Grünen-Umweltministers Jürgen Trittin ins Amt kam, hält sich da zurück. "Juristisch beurteilt" sei mit den Genehmigungen alles in Ordnung. Die "politische Legitimität" aber sei eben umstritten, sagte er der FR.
Das Gorleben-Bergwerk war auf den Weg gebracht. Bagger und Bergbau-Maschinen rückten 1983 an. Doch neue Schwierigkeiten tauchten auf. Das Abteufen der Schächte erwies sich als weitaus schwieriger als erwartet. Die Röhren mussten durch wasserführendes Lockergestein getrieben werden, bevor in 260 Metern Tiefe der Salzstock erreicht wurde – durch Ton, Sand, feinkörnigen Schluff. Der Boden ringsum wurde eingefroren, um den Schacht beim Niederbringen standsicher zu machen. Riesige Kühlaggregate mit einer Leistung, die der von 50 000 Kühlschränken entspricht, wurden eingesetzt.
Trotz des Aufwandes passierte 1987 ein schweres Unglück, als sich ein stählerner Ausbau-Ring im Schacht löste und abstürzte. Sieben Arbeiter wurden verletzt, einer so schwer, dass er starb.
Die Folge: Der Zeitplan für den Bergwerksbau wurde komplett über den Haufen geworfen. "Die Geologen hatten uns nicht auf die zu erwartenden Schwierigkeiten hingewiesen", erinnert sich PTB-Endlagerungsleiter Röthemeyer.
Ursprünglich sollte Gorleben bereits 1994 als Endlager in Betrieb gehen. Doch auch im Jahr 2000 war man längst noch nicht so weit. Da waren die zwei Schächte fertig, aber erst eines von fünf geplanten Testgebieten im Salzstock untersucht.
1998: Der Konsens kommt
Der politische Wind hatte sich gedreht. Rot-Grün war 1998 im Bund ans Ruder gekommen. Die Regierung Schröder/Fischer verhandelte mit den Stromkonzernen den "Atomkonsens". Der beinhaltete nicht nur begrenzte AKW-Laufzeiten und das Verbot der Wiederaufarbeitung im Ausland – diese lässt die Abfallmengen stark anwachsen. Man beschloss auch ein Moratorium für Gorleben – befristet auf maximal zehn Jahre.
Rot-Grün wollte den "Geburtsfehler" von Gorleben beheben. Die Vorgängerregierung hatte, das war offenbar, nicht den am besten geeigneten Standort für ein Endlager ausgesucht und nur Salz als Lagermedium, nicht auch Ton und Granit betrachtet. Ein vom grünen Umweltminister Trittin eingesetzter wissenschaftlicher "Arbeitskreis Endlager" (AK-End), in dem Atom-Befürworter und -Kritiker saßen, machte sich daran, ein Modell für eine neue, offene Endlagersuche zu entwickeln – orientiert an modernen Kriterien und am aktuellen Stand der Forschung.
Gorleben fiel in einen Dornröschenschlaf. Der Bergwerks-Ausbau wurde gestoppt. Job der Mannschaften vor Ort war es, nur die "Offenhaltung" zu sichern. So zu tun, als könne es jeden Moment mit der Erkundung weiter gehen. Dazu müssen die Stollen, bergmännisch "Strecken" genannt, immer mal wieder nachgefräst werden, weil das sie umgebende Steinsalz nachrutscht.
Nur eine einzige neue Strecke wurde kurz vor dem Moratorium noch ins Salz gefräst: der "Königsstollen", wie die Gorleben-Arbeiter ihn nannten – nach dem Chef des BfS. Der Stollen ist nötig, um eine gute Belüftung im Dornröschen-Bergwerk zu sichern.
Der "Neustart" der Endlagersuche schien auf gutem Weg. Die vom Arbeitskreis Endlager 2002 vorgelegte Blaupause für die Endlagersuche heimste sogar international viel Lob ein. Stichworte: streng wissenschaftliches Vorgehen, breite Bürgerbeteiligung, stufenweiser Vergleich mehrerer Standorte. Die Schweiz zum Beispiel geht bei ihrer Endlagersuche ganz ähnlich vor.
In Deutschland aber fiel die Klappe. Stromkonzerne sowie Union und FDP versteiften sich darauf, zuerst Gorleben fertig zu erkunden. Der Grund: Eine neue Endlagersuche nach dem AK-End-Modell würde noch einmal mehrere 100 Millionen Euro kosten, am Ende vielleicht Milliarden. Das Argument der Gorleben-Freunde: Die Zweifelsfragen zu dem Salzstock seien gelöst, und seine "Eignungshöffigkeit" sei ja sogar im Atomkonsens festgehalten. Und Rot-Grün wagte es nicht, den Neustart per Gesetz auf den Weg zu bringen.
Die Fronten verhärteten sich. Ein Versuch von Trittin-Nachfolger Gabriel in der großen Koalition, 2006 eine neue Endlagersuche zu starten, bei der Gorleben ausdrücklich mit einbezogen werden sollte, fand keine Zustimmung bei Union und FDP. Danach lief gar nichts mehr. Gegenseitige Vorwürfe blockierten die Lösung des jeweils anderen. So verstrich fast ein ganzes Jahrzehnt, die Kosten sind dennoch immens: Die Offenhaltung von Gorleben kostet jedes Jahr über 20 Millionen Euro. Seit 2000 sind rund 200 Millionen ins Salz gesetzt worden.
2009: Akten-Gau als Wende?
Der Atomkonsens von 2000 hatte den nuklearen Dauerkonflikt in der Bevölkerung entschärft – das räumen hinter vorgehaltener Hand auch Atomlobbyisten ein. Es gab weniger Atomtransporte, denn die abgebrannten Brennstäbe werden in neu gebauten Zwischenlagern an den Kraftwerken selbst abgestellt.
Nur aus der französischen WAA-Atomfabrik in La Hague fuhren regelmäßig Castor-Transporte mit den strahlenden WAA-Altlasten nach Deutschland – ins zentrale Zwischenlager Gorleben, das seit 1984 ganz in der Nähe der Schachtanlage betrieben wird.
Hier ging es traditionell heiß her. Auch noch 2001, als der erste Castor-"Sixpack" unter rot-grüner Verantwortung herangefahren wurde. Doch auch dieser Protest erlahmte zusehends. Der Gorleben-Protest wurde müde. Resignation breitete sich aus im Wendland.
Das änderte sich erst wieder, als konservative und liberale Politiker in jüngerer Vergangenheit eine Atom-Renaissance einläuteten – mit längeren AKW-Laufzeiten plus Gorleben-Erkundung. Im Herbst 2008 gab es nach der langen Pause erstmals wieder erbitterte Kämpfe um die Transporte nach Gorleben. Jetzt, im Wahljahr 2009, der vorläufige Höhepunkt: 50 000 Anti-AKW-Demonstranten, die in Berlin den Atomausstieg forderten. Für manche fast eine Zeitreise drei Jahrzehnte zurück, als Ernst Albrecht sein einsames Votum für das "Entsorgungszentrum" in Gorleben gegen alle Bedenken durchsetzen wollte.
Seit die Akten-Manipulationen aus der Kohl-Ära bekannt wurden, bröckelt bei der Union die Front derer, die Gorleben mit der Brechstange durchsetzen wollen. Schließlich könnten peinliche Dinge heraus kommen, wenn ein von SPD und Grünen erwogener Bundestags-Untersuchungsausschuss in der neuen Legislaturperiode die Gorleben-Historie ausleuchtet. Absetzbewegungen sind erkennbar: Als erste CDU-Ministerin sprach sich die baden-württembergische Umweltministerin Tanja Gönner dafür aus, parallel zum Salzstock an der Elbe auch andere Standorte zu untersuchen. Sollte sich Gorleben als ungeeignet erweisen, lasse sich eine Alternative "nicht aus dem Hut zaubern", sagt sie. "Wir müssen uns gut überlegen, ob wir es uns leisten können, am Ende möglicherweise mit leeren Händen dazustehen."
Dass das passieren könnte, halten nicht einmal eingefleischte Befürworter des Gorleben-Weiterbaus für ausgeschlossen. Bisher spreche nichts gegen die Eignung von Gorleben, sagte Holger Bröskamp, der Chef der Gesellschaft für Nuklear-Service (GNS). Die GNS ist eine Tochter der Stromkonzerne, die auch die Castor-Transporte abwickelt und das nukleare Zwischenlager in Gorleben betreibt. Doch Bröskamp weiß auch: "Endgültig nachgewiesen" ist die Eignung "nicht".
Im Bergbau heißt es: Vor der Hacke ist es duster. Und im Falle von Gorleben vielleicht sogar zappenduster.
Quelle: fr-online
Die Gorleben-Geschichte
Von Joachim Wille
Lilo Wollny ist 83 Jahre alt. Die Hausfrau sitzt in ihrer Küche, in dem alten Fachwerkhaus in Vietze an der Elbe, das schon ihren Großeltern gehörte. Die Beine wollen nicht mehr so recht, das Kreuz tut weh. Aber im Geiste ist sie hellwach wie eh und je. "Schade, dass ich nicht mit nach Berlin konnte", sagt die grauhaarige Frau. "So viele Leute waren dort, man konnte es kaum glauben." Ein paar alte Mitstreiter aus der Bürgerinitiative haben sie gerade besucht. Sie haben ihr alles erzählt, bei einer Tasse Kaffee. "Gorleben soll leben", der alte Spruch, plötzlich wieder aktuell. 50 000 Leute waren auf der Demo.
"Die Sache mit der Asse und dann die manipulierten Gorleben-Akten. Das hat Leute alarmiert, die geschlafen haben", sagt die Anti-Gorleben-Veteranin. Die Leute von der Bürgerinitiative haben den aktuellen Wahlspruch der CDU: "Wir haben die Kraft", in Berlin ergänzt: "Wir haben die Atom-Kraft". Das fand Lilo Wollny gut, es mache die Dinge klar. Aber die von der Union propagierte Atom-Renaissance ärgert die gebürtige Hamburgerin, die schon seit 64 Jahren hier, unweit von Gorleben, wohnt und mal für die Grünen im Bundestag saß, maßlos. Dass die CDU längere AKW-Laufzeiten will und damit mehr Atommüll, findet sie unglaublich. "Nach all dem, was passiert ist."
An einen Tag vor 32 Jahren kann Lilo Wollny sich genau erinnern. An den 22. Februar 1977. In Niedersachsen regierte der CDU-Ministerpräsident Ernst Albrecht. Für 18 Uhr abends war eine brisante Fernsehansprache anberaumt: Thema: Wohin mit dem Müll aus den deutschen Atomkraftwerken? Albrecht kündigte an, Niedersachsen werde das zentrale deutsche "nukleare Entsorgungszentrum" bekommen – und zwar in Gorleben. Ein Großprojekt, bestehend aus einem atomaren Zwischenlager, einer Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) und einem Endlager für den Müll aus der WAA, tief unten in einem Salzstock.
Lilo Wollny war geschockt. "Gorleben?" Der Name Gorleben war in den Zeitungen und im Fernsehen gar nicht mehr aufgetaucht, als in den Monaten zuvor mögliche Standorte diskutiert worden waren. "Wir sind fast vom Stuhl gefallen", sagt sie.
1977: Salz als Rettung
Das deutsche Atom-Endlager sollte in einem Salzstock gebaut werden. Darauf hatten sich die Atomwirtschaft und die Politiker bereits unter der SPD-geführten Bundesregierung von Helmut Schmidt geeinigt, die 1973, geschockt von der Ölkrise, ein riesiges Atomprogramm auflegte. Rund 50 AKW sollten gebaut werden, heute gibt es 17. Eine WAA-Atomfabrik sollte die abgebrannten Brennstäbe chemisch auflösen, um das restliche Uran und das Spaltprodukt Plutonium zur Nutzung in neuen Brennstäben zu gewinnen.
Ein "nuklearer Kreislauf" sollte entstehen – der allerdings nicht wirklich geschlossen sein würde. Denn beim WAA-Prozess entstehen extrem stark strahlende und heiße Reststoffe, die irgendwo untergebracht werden müssen. Salzstöcke galten in Deutschland dafür als am besten geeignet. Zuerst, ab 1967, hatte man die Einlagerung im ehemaligen Kali- und Salzbergwerk Asse bei Wolfenbüttel mit schwach- und mittelstark strahlendem Atommüll erprobt. Die Asse ist heute ein Sanierungsfall, der den Steuerzahler bis zu fünf Milliarden Euro kosten wird.
Für die Atombefürworter war die Sache klar: Furcht vor der Atomtechnik und Zweifel daran, Atommüll für 100.000 Jahre oder mehr sicher vergraben zu können, hielten sie für Hysterie. Der damalige Bundesforschungsminister Hans Matthöfer (SPD) behauptete 1976, bereits vor der Gorleben-Auswahl: "Atommüllbeseitigung ist technisch gelöst."
Der Hamburger Stromversorger HEW, der mit den Atommeilern Stade (heute: abgeschaltet) und Brunsbüttel (heute: Vattenfall) ins Atomgeschäft einstieg, verkündete in einer Broschüre: "Mit der Endablagerung in Salzformationen kann das Problem Atommüll als gelöst betrachtet werden. Die zur Diskussion stehenden mächtigen Salzlager sind von wasserundurchlässigen Schichten umgeben und liegen in erdbebensicheren Gebieten. Die Wärmeleitfähigkeit von Salz ist hoch genug, um die entstehende Zerfallswärme abzuleiten."
Aber welcher Salzstock wäre der richtige? Der Bund startete 1972 das Auswahlverfahren für die Salzformation, in der man auch den ganz "heißen" Atommüll vergraben wollte. Alle Standorte lagen in Norddeutschland, denn nur dort gibt es diese Gesteinsformationen. Eine Wissenschaftlergruppe untersuchte 100 Salzstöcke. Acht kamen in die engere Wahl, darunter auch Gorleben. In der Kategorie der am besten geeigneten Standorte waren nur noch drei, alle in Niedersachsen gelegen: einer bei Nienburg, einer bei Celle, einer im Emsland. Gorleben war draußen.
Albrecht drückt Gorleben durch
Wie Gorleben wieder zum favorisierten Standort wurde, hat ein Kommissionsmitglied, der heute emeritierte Geologieprofessor Gerd Lüttig, offenbart. Ministerpräsident Albrecht "wollte einen Standort in der Nähe der damaligen Zonengrenze haben, weil die Ostzonalen, wie er immer sagte, uns die Geschichte mit ihrem Endlager Morsleben eingebrockt haben", berichtete Lüttig vor wenigen Wochen der Nachrichtenagentur ddp.
Morsleben, das wusste der Experte aus Gesprächen mit DDR-Kollegen, war als Atomlager ungeeignet. Es gab Wasserzuflüsse, und die Wissenschaftler trieb die Sorge um, dass Morsleben absaufen würde. Radioaktiv verseuchtes Grundwasser, so die Befürchtung, könnte dann in den Westen, Richtung Helmstedt in Niedersachsen fließen "und uns da die ganze Landschaft verderben". Albrecht habe das "auf die Palme gebracht". Er legte sich auf Gorleben fest – zwei Kilometer Luftlinie von der Zonengrenze entfernt.
Freilich spielten offenbar noch andere, aber ebenso fachfremde Erwägungen eine Rolle. Die Region Gorleben war dünn besiedelt und strukturschwach, der Landkreis Lüchow-Dannenberg einer der ärmsten in der ganzen Bundesrepublik. Später wurde kolportiert, CDU-Kreispolitiker hätten ihren Parteifreund in der Staatskanzlei in Hannover sogar darum gebeten, er solle "doch da mal etwas machen". Das Endlager als regionales Konjunkturprogramm. Doch noch etwas kam hinzu. Die ländliche Bevölkerung galt als eher tumb, obrigkeitshörig, jedenfalls protestungeübt. Und: Gorleben wäre, da in einem geografischen Zwickel gelegen, der von der Elbe und der DDR-Grenze gebildet wurde, leicht mit der Polizei abzuriegeln gewesen. So wurde damals spekuliert.
Ob solcherart auch im niedersächsischen Kabinett diskutiert wurde, ist bis heute nicht bekannt. Albrecht selbst, heute 79 Jahre alt, schwieg all die Jahre zu diesen Details.
Die amtierende Landesregierung von Christian Wulff (CDU) hat die Akten aus den fraglichen Kabinettssitzungen als geheim eingestuft. Begründung: Eine Herausgabe gefährde die "Funktionsfähigkeit der Landesregierung". Ein "abstruses Argument", findet der Chef der niedersächsischen SPD-Opposition, Wolfgang Jüttner. "Wie kann das nach 30 Jahren der Fall sein?"
Die Mitglieder des Umweltausschusses im Landtag dürfen zwar die Akten einsehen, daraus zitieren dürfen sie aber nicht – Zuwiderhandlung steht unter Strafe. Das Einzige, was bislang an die Öffentlichkeit drang: Die vorgelegten Akten sind unvollständig.
Ernst Albrecht jedenfalls setzte sich Ende der 70er Jahre über den Rat der Wissenschaftler hinweg. Er düpierte sogar die von ihm selbst eingesetzte hochrangige Kommission zu Energie- und Endlagerfragen. Das von dem bekannten Kernphysiker und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker geleitete Gremium stellte die Arbeit 1977 ein. Sie war nutzlos geworden. Der Ministerpräsident hatte sich auf Gorleben festgelegt, seine Wahl getroffen und verkündet.
Aber auch die Fachleute in den eigenen niedersächsischen Fachbehörden hatten nichts mehr zu melden gehabt. Als sie von der Gorleben-Entscheidung hörten, fielen die Experten im Landesamt für Geologie aus allen Wolken. "Alle waren entsetzt", sagt Professor Dieter Ortlam.
Der inzwischen pensionierte Geologe, langjähriger Leiter der Bremer Außenstelle des Amtes, hatte auch die Böden der Region um Gorleben bereits Ende der 60er Jahre genau untersucht. Ergebnis: Die Ton-Deckschicht über dem Salzstock ist nicht dicht, sondern von einer Rinne durchzogen, die vor rund 500.000 Jahren in einer Eiszeit entstanden ist. Durch diese Rinne fließt stetig Grundwasser zum Salzstock, der dadurch "abgelaugt", also allmählich aufgelöst wird. Sogar oberflächennah wurde Salzwasser gefunden. Ortlam: "Es besteht die Gefahr, dass Lauge, die im Fall einer Atommüll-Einlagerung radioaktiv belastet sein könnte, nach oben gedrückt wird und ins Grundwasser gelangt."
Auf Albrecht ist Ortlam bis heute sauer. Eigentlich sei er damals ein Anhänger des CDU-Politikers gewesen. Doch dessen Gorleben-Votum habe ihn persönlich "enttäuscht und empört". Er sagt: "Ich möchte die Verantwortung, die Albrecht auf sich geladen hat, nicht tragen."
Auch im Bundestag galt der Alleingang des Ministerpräsidenten damals schon als höchst fragwürdig: Der SPD-Politiker Volker Hauff, seinerzeit parlamentarischer Staatssekretär im Bundesforschungsministerium, erklärte am 16. März 1977, rund sechs Wochen nach Albrechts Verkündung: Es gebe "Argumente, die dem niedersächsischen Ministerpräsidenten vor der Entscheidung des niedersächsischen Kabinetts übermittelt worden sind und die die Meinung der Bundesregierung wiedergaben, dass Gorleben kein optimaler Standort ist".
Doch im Wendland lief die Entsorgungs-Maschinerie an. Allerdings bei weitem nicht so glatt, wie Albrecht es sich erhofft hatte. Die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg entstand, und noch im selben Monat gab es die erste große Demo auf dem geplanten WAA-Bauplatz. Robert Jungk sprach, der bekannte Zukunftsforscher und Atomgegner ("Der Atomstaat"). Es folgten Protestaktionen, Infoveranstaltungen und eine Unterschriftensammlung.
Die Wendländer waren nicht so uninfomiert gewesen, wie Hannover offenbar gedacht hatte. Der Grund: Für den Standort Langendorf, nur wenige Kilometer elbabwärts, war Anfang der 70er Jahre der Bau eines Atomkraftwerks geplant worden. Schon damals hatte sich eine atomkritische Gruppe gebildet; aus ihr entstand dann die neue Initiative.
Die WAA-Firma, die Deutsche Gesellschaft zur Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen (DWK), eine Tochter der Stromkonzerne, machte sich zügig daran, die nötigen Grundstücke zu kaufen – und drohte mit Enteignung. Das wirkte. Der Großteil der Bauern verkaufte sein Land – für 4,20 Mark pro Quadratmeter. Manche wurden reich dabei. Das wiederum stachelte den Widerstand der anderen an. Im März 1979 kam es dann zum "Treck nach Hannover". Wendland-Bauern fuhren mit ihren Traktoren vor, begleitet von 100.000 Atomgegnern aus der Region, aber auch von weit her. Es war die Blütezeit der Anti-AKW-Bewegung. Und der Protest machte Eindruck. Albrecht entschied sich, Druck aus dem Kessel zu nehmen. Im Mai verkündete er in einer Regierungserklärung das Aus für die Wiederaufarbeitungsanlage. Die Planung für das Endlager aber ging weiter.
Im Juli 1979 schob Albrecht intern die Erklärung nach. In einem Brief an Bundeskanzler Helmut Schmidt schrieb er: Die Baumaßnahmen für das nukleare Entsorgungszentrum (NEZ) könnten "mit vertretbaren polizeilichen Mitteln" nicht geschützt werden, "solange die überwiegend feindselige Einstellung der Bevölkerung vor Ort und das starke Engagement weiter Bevölkerungskreise gegen das NEZ gegeben sind". Es müsse "in Sachen Wiederaufarbeitung Ballast abgeworfen werden", empfahl der Ministerpräsident. Dann, so sein Kalkül, bestehe die Chance, immerhin die Salzstock-Erkundung für das Endlager durchzusetzen.
Albrechts Ziel: "Entscheidend ist, dass die Arbeiten zur Vorbereitung des Endlagers vorangehen." Schmidt musste mitziehen. Jahre später bot sich Bayern als Ausweich-Standort für das WAA-Projekt an. Die Atomfabrik sollte in Wackersdorf gebaut werden, in der ebenfalls strukturschwachen Oberpfalz. Doch auch dort machte sich starker Widerstand breit. Die Stromkonzerne ließen das Projekt 1989 fallen.
Mai 1983: Manipulierte Gutachten
In Gorleben startete die Erkundung des Salzstocks 1979. Die Federführung lag bei der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) mit Sitz in Braunschweig. Sie wertete die vorhandenen Bodendaten aus, machte seismische Messungen, führte Tiefbohrungen durch, die erste im Jahr 1980. Atomgegner besetzten einen der geplanten Bohrplätze und errichteten ein Hüttendorf. Die "Freie Republik Wendland" bestand vier Wochen, dann räumte die Polizei das Gelände.
Drei Jahre später, 1982, wies der Bund die Experten an, in einem Gutachten eine Bilanz der "oberirdischen Erkundung" zu ziehen. Damit begann das zweite Kapitel der Endlager-Saga, Titel: Wie Gorleben durchgedrückt wurde.
Die PTB-Forscher bereiteten das Papier vor, sie schickten Kopien des Entwurfs an Fachkollegen. Dann wollten sie die Ergebnisse mit den Experten der anderen beteiligten Behörden besprechen. Passieren sollte das auf einem Treffen in Hannover, im Gebäude der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR).
Der für die Atom-Endlagerung zuständige PTB-Abteilungsleiter Professor Helmut Röthemeyer staunte, als er dort ankam. Es tauchten auch Vertreter des Bundeskanzleramts sowie des Innen- und des Forschungsministeriums der damals neuen Regierung unter Helmut Kohl (CDU) auf, unerwartet, ohne Einladung. Sie mischten sich ein, sie forderten die PTB auf, das Gutachten zu ändern, das eine Reihe kritischer Aussagen zu Gorleben enthielt – etwa die, dass das zerklüftete Deckgebirge über dem Salzstock nicht dafür geeignet wäre, "Kontaminationen auf Dauer von der Biosphäre fern zu halten". Röthemeyer erinnerte sich im Frühjahr dieses Jahres in der taz: "Es gab nichts Schriftliches, keine schriftliche Weisung, aber wir mussten das Gespräch klar als Weisung auffassen."
Noch heute ist der inzwischen pensionierte Wissenschaftler, der Wert darauf legt, kein grundsätzlicher Gorleben-Gegner zu sein, empört: "Ich habe in meinem ganzen Leben nie wieder ein solches Gespräch geführt."
Die Bombe platzte kürzlich – mit 26 Jahren Verspätung. Anhand von verschiedenen Fassungen aus den Akten von 1983, die unlängst zuerst in der FR veröffentlicht wurden, konnte die Manipulation des PTB-Gutachtens vom vorsichtig abwägenden wissenschaftlichen Papier zu einem politisch gesteuerten Bericht aufgezeigt werden. Die Endfassung schließt wunschgemäß mit dem Absatz: "Abschließend wird festgestellt: Die bestätigte Eignungshöffigkeit des Salzstocks für die Endlagerung der vorgesehenen radioaktiven Abfälle rechtfertigt das Abteufen von Schächten und die Erkundung des Salzstockinneren."
Der Begriff "Eignungshöffigkeit" war den Experten dringend nahegelegt worden. Er bedeutet in der Bergbau-Fachsprache: Es spricht nichts dagegen, dass das Bergwerk und die Einlagerung sicher durchgeführt werden können. Er sollte später noch eine große Rolle in der Gorleben-Debatte spielen.
Das Kanzleramt vertrat damals ein junger Oberregierungsrat namens August Hanning, der später die Karriereleiter weit hinauf stieg. Hanning wurde Präsident des Bundesnachrichtendienstes, heute ist er parteiloser Staatssekretär im Bundesinnenministerium von Wolfgang Schäuble (CDU). Er und die beiden Kollegen aus den Bonner Ministerien brachten eine ganz Reihe Änderungswünsche vor. Dass Hanning, heute 63, damals der Kanzleramts-Emissär gewesen war, bestätigte ein Ministeriumssprecher der FR. Doch Hanning kann sich angeblich nicht mehr erinnern, was er von den Wissenschaftlern forderte. "Ich habe das nicht mehr transparent vor Augen", ließ er dem Spiegel mitteilen.
PTB-Mann Röthemeyer erinnert sich dafür umso besser. Noch heute ist er stolz darauf, viele der Korrekturwünsche abgewehrt zu haben. "Da sollte noch einiges mehr umgeschrieben werden", sagt er.
Wie die Bundesregierung Einfluss nahm, dokumentiert auch ein Brief des Referatsleiters aus dem Forschungsministerium, Ziegler, an die PTB, ein Brief, dessen Inhalt ebenfalls erst seit kurzem bekannt ist. Darin schreibt der Mitarbeiter des Bundesministers: "Im übrigen bitte ich, den vermutlich hypothetischen Störfall des Wasser- und Laugenzutritts (…), der an mehreren Stellen die am 11. 5. 1983 diskutierte Zusammenfassung und Bewertung bestimmt, etwas weiter vom Zentrum der Betrachtung wegzurücken." Im Klartext: Einer der wichtigsten Einwände gegen Gorleben sollte als Nebensache im Text versteckt werden.
Gorleben wird Wahlkampfthema
Als das alles jetzt bekannt wurde, schlugen die Wellen hoch. Gorleben wurde Wahlkampfthema. Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) bezeichnete Gorleben als "politisch tot". Die Retourkutsche kam sofort. Politiker von Union und FDP warfen ihm vor, die alten Akten gezielt für sein Ziel Atomausstieg einzusetzen. Dann schaltete sich das Kanzleramt ein. Die 80 bis 90 Aktenordner mit der Gorleben-Historie sollen nun gemeinsam durchforstet werden.
Auf FR-Anfrage meldete sich Altkanzler Helmut Kohl zu Wort, der Mann, in dessen erster Amtszeit der Skandal passiert war. Er unterstütze eine "zügige Aufklärung" des Vorwurfs der Aktenmanipulation, teilte Kohls Büroleiter mit. Das könnte interessant werden. In seiner Regierungserklärung vom März 1983 hatte Kohl angekündigt: "Die Entsorgung muss und wird zügig verwirklicht werden." Wie das versucht wurde, weiß man nun. Bedenken wurden weggebügelt. Ob mit oder ohne Wissen der politisch Verantwortlichen – das ist die Frage.
Die Ex-Minister, in deren Ressorts Gorleben damals fiel, heißen Friedrich Zimmermann (CSU) und Heinz Riesenhuber (CDU). Beide weisen heute den Verdacht strikt zurück, sie hätten von dem Druck auf die PTB-Forscher wissen müssen. "Ich habe nicht einmal einen Schimmer, wie das damals gewesen ist", sagt Ex-Bundesinnenminister Zimmermann der FR. Es sei ja alles schon über 25 Jahre her. Wenn es so etwas gegeben habe, "dann hat es mich nicht erreicht", so der heute 84-Jährige.
So etwas könne auf Referatsleiter-Ebene eingefädelt worden sein, meint er. Zimmermann war damals für Umwelt- und Atompolitik zuständig. Das Bundesumweltministerium wurde erst 1986, nach dem Tschernobyl-Super-GAU, gegründet.
Heinz Riesenhuber, Ex-Forschungsminister, ist mit seinen 73 Jahren heute CDU-Bundestagsabgeordneter und tritt bei der Wahl am 27. September wieder an. Er erinnere sich nicht daran, dass das Thema Gorleben jemals im Bundeskabinett besprochen worden sei. Man habe dort über Themen diskutiert, "wenn sie streitig waren. Das war hier nicht der Fall", sagte er erst vor Kurzem in einem FR-Interview. Und: "Politischer Einfluss wäre gewesen, wenn Bundeskanzler Kohl dem zuständigen Referatsleiter im Forschungsministerium gesagt hätte, er soll die Gutachten umschreiben lassen. Das ist schlechterdings nicht vorstellbar."
Der Ex-Forschungsminister jedenfalls hält es heute trotz der bekannten Gutachten-Manipulationen für richtig, Gorleben weiter auf seine Eignung als Endlager zu erkunden. An dem Standort seien inzwischen 1,5 Milliarden Euro investiert worden. Riesenhuber folgert daraus: "Da ist es doch vernünftig, die gestoppten Arbeiten wieder aufzunehmen, um Klarheit zu schaffen."
Juli 1983: Das Kabinett winkt durch
Es startete das dritte Kapitel der Gorleben-Story. Das Kabinett winkte den Gorleben-Plan aus dem Zimmermann-Ministerium durch. Der Bau der Schächte im Salzstock begann im Juli 1983. Die Firma "Deutsche Gesellschaft zum Bau und Betrieb von Endlagern für Abfallstoffe" (DBE) baute das so genannte Erkundungs-Bergwerk aber offenbar deutlich größer – und viel teurer –, als es nur für diesen Zweck nötig gewesen wäre. Die oberirdischen Anlagen und der Schacht wurden gleich so dimensioniert, dass sie später zum Betrieb eines Atom-Endlagers taugen könnten. Fakten wurden geschaffen.
Das geschah natürlich nicht ohne politische Rückendeckung. Ein zufällig mitgehörtes Gespräch von Fachbeamten belegt, wie damals unter Mitwirkung des Innenministeriums getrickst wurde. Der Hamburger Geschichtsprofessor Helmut Bley wurde 1983 Zeuge einer Gorleben-Fachdiskussion, die im Speisewagen eines Intercity zwischen Hamburg und Hannover abgehalten wurde. Fünf Experten, einer davon aus dem Zimmermann-Ministerium, ein anderer von der PTB, sprachen darüber, wie man in Gorleben ein aufwändiges Planfeststellungsverfahren für den Endlagerbau umgehen könne. Laut Bley schlug einer der Leute vor, eine "Erkundung nach Bergrecht" statt eines "Endlagerbaus nach Atomrecht" durchzuführen. Das sei viel einfacher – nämlich ohne formale Bürgerbeteiligung. So wurde es gemacht.
Bei der Diskussion ging es auch um die Frage: Wie breit sollen die Schächte ausgeführt werden, die rund 800 Meter hinunter in den Salzstock gehen. Der Ministerialbeamte sagte, für eine reine Erkundung reichten 3,5 bis vier Meter. Nur: Die PTB, damals auch Gorleben-Betreiber, hatte 7,50 Meter gefordert, doppelt so viel. Diese Breite sei nur zu vertreten, wenn der Schacht auch für den industriellen Betrieb des Endlagers genutzt werde. Doch der für die Genehmigung zuständige Beamte wusste Rat. Er versprach, die große Röhre durchzu- winken, falls ein Gutachten beschafft werden könne, dass die 7,50 Meter "für notwendig oder wünschenswert erklärt". So kam es. Die Gorleben-Schächte bekamen einen Durchmesser von sogar über 7,50 Metern.
Gorleben galt als gesetzt. Die Anti-Gorleben-BI attackiert die Trickserei, seit sie herauskam. "Das war die "Erkundungslüge", sagt ihr Sprecher Wolfgang Ehmke. Inzwischen ist die XXL-Ausführung der Anlagen aber auch offiziell bestätigt. Der heutige Gorleben-Betreiber, das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) in Salzgitter, räumte im Frühjahr 2009 in einem internen Papier ein: Die Kosten in Gorleben sind mit 1,5 Milliarden Euro auch deswegen so exorbitant hoch gestiegen, weil der Ausbau überdimensioniert war. Ein reines Erkundungsbergwerk hätte maximal 500 Millionen Euro gekostet, gibt BfS-Präsident Wolfram König an.
Es drängt sich die Frage auf, ob Gorleben also ein "Schwarzbau" ist. Auch der atomkritische BfS-Chef, der in der Ära des Grünen-Umweltministers Jürgen Trittin ins Amt kam, hält sich da zurück. "Juristisch beurteilt" sei mit den Genehmigungen alles in Ordnung. Die "politische Legitimität" aber sei eben umstritten, sagte er der FR.
Das Gorleben-Bergwerk war auf den Weg gebracht. Bagger und Bergbau-Maschinen rückten 1983 an. Doch neue Schwierigkeiten tauchten auf. Das Abteufen der Schächte erwies sich als weitaus schwieriger als erwartet. Die Röhren mussten durch wasserführendes Lockergestein getrieben werden, bevor in 260 Metern Tiefe der Salzstock erreicht wurde – durch Ton, Sand, feinkörnigen Schluff. Der Boden ringsum wurde eingefroren, um den Schacht beim Niederbringen standsicher zu machen. Riesige Kühlaggregate mit einer Leistung, die der von 50 000 Kühlschränken entspricht, wurden eingesetzt.
Trotz des Aufwandes passierte 1987 ein schweres Unglück, als sich ein stählerner Ausbau-Ring im Schacht löste und abstürzte. Sieben Arbeiter wurden verletzt, einer so schwer, dass er starb.
Die Folge: Der Zeitplan für den Bergwerksbau wurde komplett über den Haufen geworfen. "Die Geologen hatten uns nicht auf die zu erwartenden Schwierigkeiten hingewiesen", erinnert sich PTB-Endlagerungsleiter Röthemeyer.
Ursprünglich sollte Gorleben bereits 1994 als Endlager in Betrieb gehen. Doch auch im Jahr 2000 war man längst noch nicht so weit. Da waren die zwei Schächte fertig, aber erst eines von fünf geplanten Testgebieten im Salzstock untersucht.
1998: Der Konsens kommt
Der politische Wind hatte sich gedreht. Rot-Grün war 1998 im Bund ans Ruder gekommen. Die Regierung Schröder/Fischer verhandelte mit den Stromkonzernen den "Atomkonsens". Der beinhaltete nicht nur begrenzte AKW-Laufzeiten und das Verbot der Wiederaufarbeitung im Ausland – diese lässt die Abfallmengen stark anwachsen. Man beschloss auch ein Moratorium für Gorleben – befristet auf maximal zehn Jahre.
Rot-Grün wollte den "Geburtsfehler" von Gorleben beheben. Die Vorgängerregierung hatte, das war offenbar, nicht den am besten geeigneten Standort für ein Endlager ausgesucht und nur Salz als Lagermedium, nicht auch Ton und Granit betrachtet. Ein vom grünen Umweltminister Trittin eingesetzter wissenschaftlicher "Arbeitskreis Endlager" (AK-End), in dem Atom-Befürworter und -Kritiker saßen, machte sich daran, ein Modell für eine neue, offene Endlagersuche zu entwickeln – orientiert an modernen Kriterien und am aktuellen Stand der Forschung.
Gorleben fiel in einen Dornröschenschlaf. Der Bergwerks-Ausbau wurde gestoppt. Job der Mannschaften vor Ort war es, nur die "Offenhaltung" zu sichern. So zu tun, als könne es jeden Moment mit der Erkundung weiter gehen. Dazu müssen die Stollen, bergmännisch "Strecken" genannt, immer mal wieder nachgefräst werden, weil das sie umgebende Steinsalz nachrutscht.
Nur eine einzige neue Strecke wurde kurz vor dem Moratorium noch ins Salz gefräst: der "Königsstollen", wie die Gorleben-Arbeiter ihn nannten – nach dem Chef des BfS. Der Stollen ist nötig, um eine gute Belüftung im Dornröschen-Bergwerk zu sichern.
Der "Neustart" der Endlagersuche schien auf gutem Weg. Die vom Arbeitskreis Endlager 2002 vorgelegte Blaupause für die Endlagersuche heimste sogar international viel Lob ein. Stichworte: streng wissenschaftliches Vorgehen, breite Bürgerbeteiligung, stufenweiser Vergleich mehrerer Standorte. Die Schweiz zum Beispiel geht bei ihrer Endlagersuche ganz ähnlich vor.
In Deutschland aber fiel die Klappe. Stromkonzerne sowie Union und FDP versteiften sich darauf, zuerst Gorleben fertig zu erkunden. Der Grund: Eine neue Endlagersuche nach dem AK-End-Modell würde noch einmal mehrere 100 Millionen Euro kosten, am Ende vielleicht Milliarden. Das Argument der Gorleben-Freunde: Die Zweifelsfragen zu dem Salzstock seien gelöst, und seine "Eignungshöffigkeit" sei ja sogar im Atomkonsens festgehalten. Und Rot-Grün wagte es nicht, den Neustart per Gesetz auf den Weg zu bringen.
Die Fronten verhärteten sich. Ein Versuch von Trittin-Nachfolger Gabriel in der großen Koalition, 2006 eine neue Endlagersuche zu starten, bei der Gorleben ausdrücklich mit einbezogen werden sollte, fand keine Zustimmung bei Union und FDP. Danach lief gar nichts mehr. Gegenseitige Vorwürfe blockierten die Lösung des jeweils anderen. So verstrich fast ein ganzes Jahrzehnt, die Kosten sind dennoch immens: Die Offenhaltung von Gorleben kostet jedes Jahr über 20 Millionen Euro. Seit 2000 sind rund 200 Millionen ins Salz gesetzt worden.
2009: Akten-Gau als Wende?
Der Atomkonsens von 2000 hatte den nuklearen Dauerkonflikt in der Bevölkerung entschärft – das räumen hinter vorgehaltener Hand auch Atomlobbyisten ein. Es gab weniger Atomtransporte, denn die abgebrannten Brennstäbe werden in neu gebauten Zwischenlagern an den Kraftwerken selbst abgestellt.
Nur aus der französischen WAA-Atomfabrik in La Hague fuhren regelmäßig Castor-Transporte mit den strahlenden WAA-Altlasten nach Deutschland – ins zentrale Zwischenlager Gorleben, das seit 1984 ganz in der Nähe der Schachtanlage betrieben wird.
Hier ging es traditionell heiß her. Auch noch 2001, als der erste Castor-"Sixpack" unter rot-grüner Verantwortung herangefahren wurde. Doch auch dieser Protest erlahmte zusehends. Der Gorleben-Protest wurde müde. Resignation breitete sich aus im Wendland.
Das änderte sich erst wieder, als konservative und liberale Politiker in jüngerer Vergangenheit eine Atom-Renaissance einläuteten – mit längeren AKW-Laufzeiten plus Gorleben-Erkundung. Im Herbst 2008 gab es nach der langen Pause erstmals wieder erbitterte Kämpfe um die Transporte nach Gorleben. Jetzt, im Wahljahr 2009, der vorläufige Höhepunkt: 50 000 Anti-AKW-Demonstranten, die in Berlin den Atomausstieg forderten. Für manche fast eine Zeitreise drei Jahrzehnte zurück, als Ernst Albrecht sein einsames Votum für das "Entsorgungszentrum" in Gorleben gegen alle Bedenken durchsetzen wollte.
Seit die Akten-Manipulationen aus der Kohl-Ära bekannt wurden, bröckelt bei der Union die Front derer, die Gorleben mit der Brechstange durchsetzen wollen. Schließlich könnten peinliche Dinge heraus kommen, wenn ein von SPD und Grünen erwogener Bundestags-Untersuchungsausschuss in der neuen Legislaturperiode die Gorleben-Historie ausleuchtet. Absetzbewegungen sind erkennbar: Als erste CDU-Ministerin sprach sich die baden-württembergische Umweltministerin Tanja Gönner dafür aus, parallel zum Salzstock an der Elbe auch andere Standorte zu untersuchen. Sollte sich Gorleben als ungeeignet erweisen, lasse sich eine Alternative "nicht aus dem Hut zaubern", sagt sie. "Wir müssen uns gut überlegen, ob wir es uns leisten können, am Ende möglicherweise mit leeren Händen dazustehen."
Dass das passieren könnte, halten nicht einmal eingefleischte Befürworter des Gorleben-Weiterbaus für ausgeschlossen. Bisher spreche nichts gegen die Eignung von Gorleben, sagte Holger Bröskamp, der Chef der Gesellschaft für Nuklear-Service (GNS). Die GNS ist eine Tochter der Stromkonzerne, die auch die Castor-Transporte abwickelt und das nukleare Zwischenlager in Gorleben betreibt. Doch Bröskamp weiß auch: "Endgültig nachgewiesen" ist die Eignung "nicht".
Im Bergbau heißt es: Vor der Hacke ist es duster. Und im Falle von Gorleben vielleicht sogar zappenduster.
Quelle: fr-online